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Distanzierter Erzähler. Hans Joachim Schädlich.

© Jürgen Bauer

„Die Villa“ von Hans Joachim Schädlich: Ein literarisches Bollwerk der Diskretion

Viele Jahreszahlen, keine Emotionen: Mit dem Roman „Die Villa“ widmet sich Hans Joachim Schädlich seiner eigenen Familiengeschichte.

Glaubt man den gängigen Mustern der Traumdeutung, so steht das Haus für die Persönlichkeit des oder der Träumenden. Wirkt das Gebäude alt und heruntergekommen, soll das unbewusste Schuldgefühle symbolisieren.

Ob wohl Elisabeth und Hans Kramer und ihre vier Kinder, die zentralen Protagonisten von Hans Joachim Schädlichs Buch „Die Villa“, je von dieser geträumt haben? Der bis zur Sprödigkeit diskrete Erzähler jedenfalls teilt nichts Entsprechendes mit.

Im Sommer 1940 bezieht der aufstrebende Wollkaufmann Hans Kramer mit seiner Familie in Reichenbach/Vogtland das repräsentative, 1890 errichtete Domizil. Mit der geschwungenen Auffahrt samt Springbrunnen, einem spitzen Turm, Bleiglasfenstern im zweistöckigen Entree sowie einem großen Garten wirkt es wie ein Traumschloss, besonders für die zwischen 1931 und 1937 geborenen Kinder.

Standesgemäß stammen die neuen Möbel von den Deutschen Werkstätten Dresden-Hellerau, das Tafelgeschirr von Hutschenreuther, das Silberbesteck von WMF auf der Schwäbischen Alb. Die Umzugsmitteilung des bereits vor der Machtergreifung 1933 in die NSDAP eingetretenen Hans Kramer an seine Kunden schließt mit der Grußformel „Heil Hitler! Hans Kramer, Wolle“.

2008 erteilt die Reichenbacher Denkmalschutzbehörde die Abrissgenehmigung. Die Ironie der Geschichte will es, dass sich auf dem Gelände rund um die alte sächsische Villa eine westdeutsche Firma angesiedelt hat, die Aktenvernichter herstellt.

Mit der Kälte-Methode an die eigene Familiengeschichte

Viele Jahreszahlen, aber kaum Emotionen: „Die Villa“ ist ein typisches Schädlich-Prosawerk. Nach Art des epischen Theaters hält der 1935 in Reichenbach geborene Linguist und Schriftsteller sein Material stets „kalt“ – und das nicht erst seit seinem ersten, 1986 veröffentlichten Roman „Tallhover“, sondern bereits in der Prosa, die er vor seiner Ausreise 1977 in der DDR schrieb und unter dem Titel „Versuchte Nähe“ bei Rowohlt publizierte. Die für ihn typische, stilistisch nicht unumstrittene Kälte-Methode wendet Schädlich nun auf seine Familiengeschichte an.

Mit dem lapidaren, vernichtenden Satz „Paul war völlig überflüssig“ annonciert der Erzähler die Geburt des dritten Sohnes 1935. Erst als mit Thea die ersehnte Tochter auf die Welt kommt, schneidet Elisabeth ihrem Paul die schulterlangen blonden Locken ab und kleidet ihn nicht länger als Mädchen.

Aus Pauls Perspektive, aus einigen seiner Erlebnisse wie dem ersten Besuch beim Hufschmied, gewinnt der Text so etwas wie emotionale Tiefe. Diese Miniaturen fügen sich wie farbige Intarsien in eine ansonsten schematische Chronologie. So teilt Hans Kramer seiner Frau am Abend des 10. Mai 1940 bei einem Glas Wein im Stil der „Wochenschau“ mit: „Unsere Wehrmacht ist in Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschiert.“

Ihre Sorgen zerstreut er mit dem Satz „Ich glaube nicht, dass wir Angst haben müssen.“ Nur gegen Ende seines kurzen Lebens – der herzkranke Mittdreißiger erliegt 1943 einem Infarkt – regt sich bei dem früheren NDSDAP-Ortsgruppenleiter die Einsicht: Er erkennt, seine besten Jahre Verbrechern geopfert zu haben.“

Bedrohungen halten sich in Grenzen

Die erzählte Zeit reicht grob vom Ende der Weimarer Republik bis in die Anfangsjahre der DDR ab 1949, als die Kramer-Villa enteignet wird. Bereits im Krieg hatte Elisabeth das Erdgeschoss für das Rote Kreuz räumen müssen. Später nimmt sie einen Berliner Damenschneider und dessen kesse, sprachgewandte Frau bei sich auf, für die sich der Erstgeborene Georg zu interessieren beginnt.

Der wilde, rattenjagende Kurt dagegen kommt zur Zähmung in eine Napola, eine NS-Eliteschule, was nicht weiter thematisiert wird. Auch sonst halten sich in „Die Villa“ die Bedrohungen in Grenzen: Der französische Zwangsarbeiter Pierre wird gut behandelt und freundet sich mit Paul an. Ein jüdischer Lehrer, den der Vater einen „bösen alten Mann“ nennt, kann noch rechtzeitig emigrieren.

[Hans Joachim Schädlich: Die Villa Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.189 Seiten, 20 €.]

Dieser scheinbare Gleichmut ist offenbar der Kinderperspektive geschuldet. Eine erschütternde Ausnahme von der obwaltenden Indifferenz gibt es dann aber doch: das Schicksal von Elisabeths Bruder Fritz Ruttig. Der Leidensweg des jungen friedfertigen Mannes, dessen amüsante Phantasien das Wahnhafte streifen, wirkt wie ein düsterer Basso continuo.

Als er beim Kaffee im Elternhaus mit zerrissenem Hemd auftaucht und verkündet, er baue ein Wasserkraftwerk in Dänemark, platzt die Verlobung von Elisabeths älterer Schwester Hilde. Sie könnten keine Kinder haben, lässt ihr Freund sie wissen.

Während der Nachkriegsbesatzung kommt sogar Heiterkeit auf

Anhand dieser Episode demonstriert Schädlich, wie tief sich die NS-Doktrin der „Erbgesundheit“ und des angeblich „unwerten Lebens“ in den Köpfen festgesetzt hatte. Fritz, der freundliche „Quatscher“, fällt der Euthanasie zum Opfer.

Diese Haarrisse im Familienalbum machen den besonderen Charakter des Buches aus und erheben es über ein reines zeitgeschichtliches Kondensat: kleinste Erschütterungen in Pauls Kinderkosmos, Miniaturdramen wie die Tötung einer Ratte oder Theas Sturz vom Treppengeländer, der ihren Brüdern die frischgebackenen Haselnusswaffeln verleidet.

Während der kurzen Nachkriegsbesatzung durch die Amerikaner, die im Sommer 1945 von den Russen abgelöst werden, kommt sogar verhaltene Heiterkeit auf. „It won't be fun“, erklärt ein GI Elisabeth, doch sie weigert sich, mit den Kindern in den Westen zu ziehen.

Es folgen eine weitere Diktatur und schließlich der Abriss der Gründerzeitvilla. Akkurat listet Hans Joachim Schädlich jene Gebäudeteile auf, die der Denkmalschutzbehörde erhaltenswert erschienen – sehr darauf vertrauend, dass sich bei der Lektüre jene Emotion einstellen möge, der er sich im Diskretionsbollwerk „Die Villa“ geflissentlich enthält.

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