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Kultur: Die Wahl in Berlin: Spät dran

Sechs Minuten und 22 Sekunden - Berlin ist spät dran. Denn um soviel hecheln die Menschen an der Spree der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) hinterher.

Von Lutz Haverkamp

Sechs Minuten und 22 Sekunden - Berlin ist spät dran. Denn um soviel hecheln die Menschen an der Spree der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) hinterher. Das mag nicht epochal sein, aber es ist messbar - wie so vieles andere in dieser Stadt. Nehmen wir beispielsweise das Anwesen in der Rungestraße 10 im Bezirk Mitte: Gerademal 3,50 Meter misst das schmalste Haus Berlins. Und als gäbe es wirklich nicht ausreichend Platz auf 89 169 Hektar Hauptstadt, mutet die Eiergasse - ebenfalls in Mitte - mit 16 Metern als kürzeste Straße Berlins nun wahrlich übersichtlich an. Bei so großer Enge scheint es verwunderlich, dass die Hälfte der Männer ledig ist und im Gedränge von 3,387 Millionen Hauptstädtern noch nicht die Partnerin fürs Leben gefunden hat. Die Berliner Frauen sind oder waren immerhin zu 60 Prozent verheiratet. Und klüger sind sie auch. Denn: Von denjenigen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, sind über 60 Prozent männlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abiturient weiblich ist, liegt bei 56 Prozent. Diese bildungspolitische Unwucht wollten sich im letzten Juli immerhin 438 204 Ortsfremde anschauen und fielen dabei 1 050 024-mal in einen mehr oder minder geruhsamen Schlaf.

Der Berliner selbst hat im Gegensatz dazu gar keine Zeit zum Schlafen. Denn er stellt Produkte und Dienstleistungen für rund 150 Milliarden Mark pro Jahr her. Und die Angestellten in Gewerbe und Handel gaben ihren Durchschnittsverdienst von 5921 Mark bei den 8762 Theater- und Opernaufführungen wieder aus. Für Bildung hat der Hauptstädter eben eine Menge übrig. So haben die Volkshochschulen im letzten Jahr 16 467 Kurse angeboten und fanden 227 000 willige Wissbegierige.

Und solange sich der Berliner bildet, fährt er glücklicherweise nicht mit dem Auto. Das machte ein Berliner am 2. August auf dem Kurt-Schumacher-Damm in Reinickendorf mit 124 Stundenkilometern, erlaubt waren 50. Ihm sei versichert: Selbst damit lassen sich die sechs Minuten und 22 Sekunden Verspätung zur MEZ nicht aufholen. Berlin ist eben spät dran.

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