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Kultur: Die Welt geht unter, ich fühl mich prima

R.E.M. wollten lange keine Popstars sein. In der Waldbühne geben sie jetzt ein routiniertes Greatest-Hits-Konzert

In den frühen Tagen seiner Karriere traf Michael Stipe auf Andy Warhol. Auf die Frage, was er so mache, antwortete er, dass er Sänger in einer Band sei. Warhol sagte: „Oh, du bist ein Popstar.“ Stipe erwiderte: „Nein, ich bin Sänger in einer Band.“ Er hat sich lange geweigert, ein Popstar zu sein. Doch es ließ sich nicht verhindern. Immerhin hat er zusammen mit seiner Band R.E.M. ein paar der bewegendsten Songs aller Zeiten geschrieben. Stipe betritt die Waldbühne, und das Bühnenbild unter dem Zeltdach könnte eine „Wetten, dass?“-Kulisse sein. Das Wort „Luv“ hängt in großen Buchstaben über den Musikern, um sie herum funkelt und glitzert es. Trotz des strömenden Regens trägt Stipe eine Sonnenbrille. „Guten Abend, guten Morgen, guten Tag“, sagt er. „Es sollte doch schon dunkel sein.“

Dann setzt sein letzter Hit „Imitation of Life“ ein. Der Refrain reißt die Zuschauer von den Sitzbänken. Stipes Beinarbeit ist beachtlich. Wie ein Boxprofi in der ersten Runde tänzelt er von einer Ecke der Bühne zur anderen. Bassist Mike Mills trägt eine knallgelbe Jacke und sieht mit seinem im Takt wippenden grauen Haarschopf aus wie der selige Grateful Dead-Sänger Jerry Garcia ohne Bart. Gitarrist Pete Buck bewegt sich nur, wenn es unbedingt nötig ist. „The Finest Worksong“, „What’s Your Frequency, Kenneth?“, „Drive“ – R.E.M. arbeiten sich routiniert durch ihre Vergangenheit und reihen originalgetreue Interpretationen der eigenen Songs aneinander.

Zwischen den Stücken bemüht sich Stipe, einen charmanten Conferencier abzugeben. Er streichelt seine Glatze und plaudert über sein Lieblingsschuhgeschäft in Berlin-Mitte und über seine Vorliebe für deutschen Kartoffelsalat. „Das nächste Lied hat sich ein Fan gewünscht“, kündigt er den Klassiker „Maps and Legends“ an: „Wir haben es 1982 geschrieben. Oder war es 1892?“

Vor 23 Jahren nahm der damalige Kunststudent Stipe sein großes Idol Patti Smith beim Wort, die behauptet hatte, dass wirklich jeder singen könne. In einer Garage der Universitätsstadt Athens im US-Bundestaat Georgia gründete er zusammen mit drei Freunden R.E.M. Damals hätte Stipe wohl nie damit gerechnet, dass er einmal vor einem Familien-Publikum spielt, das auf wasserfesten Sitzkissen Platz nimmt und sich für die Strampelhosen, Jutetüten und Blechtassen mit Band-Logo interessiert, die am T-Shirt-Stand angeboten werden. R.E.M. rebellierten sanft gegen die Gier der Reagan-Ära. Sie kombinierten melodiösen Folk mit kantigem Punk und kryptischen Inhalten. „Murmur“, das erste Album der Band, gefiel der Redaktion des „Rolling Stone“ seinerzeit besser als Michael Jacksons „Thriller“. Mit langsam, aber stetig zunehmendem Erfolg inszenierte Stipe sich als geheimnisvollen Sonderling. Sein Markenzeichen waren die unergründlichen, halb gemurmelten Texte, auf die sich jeder seinen eigenen Reim machen konnte, weil ohnehin nur Fetzen zu verstehen waren. Spätestens als man ihm für den Song „Losing My Religion“ einen Grammy überreichte, war Alternative Rock zum Mainstream-Phänomen geworden.

In den Neunzigerjahren gab Stipe launische Interviews und lästerte über die eigenen Fans, die seiner Meinung nach einen Tritt in den Arsch verdient hatten. Seit ihrem letzten Meisterwerk „Automatic For The People“, das nun schon über zehn Jahre zurückliegt, veröffentlichte seine Band kaum mehr als Belanglosigkeiten auf hohem Niveau. Schlagzeuger Bill Berry hatte als erster genug und warf bei den Aufnahmen zum vorletzten Album „Up“ die Drumsticks hin und zog sich auf seine Farm zurück. Es ist die größte Herausforderung für eine erfolgreiche Band, zum richtigen Zeitpunkt aufzuhören. R.E.M. haben diesen Zeitpunkt verpasst. Auf der Waldbühne klingen sie wie eine Kopie ihrer selbst. Mit ihrem Publikum haben sie sich jedoch versöhnt.

Aus dem Sonderling Stipe ist ein netter Mann geworden, der sich mit dem Popstar-Sein arrangiert hat. Die unergründliche Aura, die ihn umgab, ist deshalb verschwunden. 1992 wurde Michael Stipe vom amerikanischen „Life“-Magazin gefragt, wie er sich die Zukunft seiner Band vorstelle. Er antwortete, dass Rock’n’Roll seinem Wesen nach die Musik junger Leute sei und dass man irgendwann zu alt dafür werde. Dann schlug er vor, dass R.E.M. ihr letztes Konzert am 31. Dezember 1999 geben und damit eine Ära abschließen würden. Ein letztes Mal hätten sie ganz zum Schluss „It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine)“ gespielt. Am Tag danach wollte Michael Stipe sich das Gesicht waschen, Kaffee und Toast zum Frühstück nehmen, hinaus aufs Feld gehen und mit seinen Hunden um die Wette laufen. Vielleicht hätte er das tun sollen.

Und doch sieht es in den besten Momenten des Konzertes so aus, als könne die Zeit seinen Songs nichts anhaben. Als Stipe die Zeile „This One Goes out to the One I Love“ singt, fängt ein weiß gekleidetes Mädchen vor Rührung an zu weinen. Nicht weit von ihr entfernt küssen sich zwei Männer. In solchen Augenblicken tritt plötzlich das ein, was Michael Stipe sich einmal als Reaktion auf seine Musik gewünscht hat: „Idealerweise machen sich die Leute meine Musik zu eigen. Wenn sie spüren, dass ein Song von ihrer persönlichen Situation handelt, dann gehört dieser Song nur noch ihnen.“

Heiko Zwirner

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