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Kultur: Die Welt ist Schwund

Entdeckung des Glaubens: „Der Seidene Schuh“ von Paul Claudel am Theater Basel

Am 25. Dezember 1886 hatte Paul Claudel sein Erweckungserlebnis: In der Kathedrale von Notre-Dame kam Gott über den 18-Jährigen, der zuvor heftig von Rimbauds Höllen-Dichtungen („Illuminations“, „Saison en enfer“) erfasst worden war. „Es ist wahr! Gott existiert, er ist da. Es ist jemand, es ist ein ebenso persönliches Wesen wie ich! Er liebt mich, er ruft mich.“ So hat der französische Dichter und Diplomat später die Epiphanie beschrieben. Sein Werk – erzkatholisch bis zur Ekstase – stellte sich gegen die Strömungen des Theaters im 20. Jahrhundert: gegen Brecht, gegen die Absurden. Paul Claudel, Bruder der im Wahn geendeten, von Legenden umrankten Bildhauerin Camille Claudel, starb 1955 in Paris – und jetzt erscheint er plötzlich als Visionär, dessen ausufernde Fantasie in ein Vakuum strömt.

Es war André Malraux, der sagte, das 21. Jahrhundert werde spirituell sein – oder gar nicht. Das ist ein weites Schlachtfeld, und das Grauen im Irak scheint die höchst ambivalente These Malraux’ zu bestätigen. Um das Basler Theater, wo der Gotteskrieger jetzt wie ein deus ex machina auftaucht, läuft Tag und Nacht eine Leuchtschrift: „Es ist Krieg. Das Recht des Stärkeren hat über die Stärke des Rechts gesiegt. Dieser Krieg ist ein Angriffskrieg und bricht das Völkerrecht.“ Drinnen toben geistige Kämpfe: Zu seinem Abschied hat der Basler Schauspieldirektor Stefan Bachmann ein gewaltiges Spektakel in Szene gesetzt – „Der Seidene Schuh“, Claudels Hauptwerk von 1927. Ein Text wie ein Schleppnetz, in dem sich Menschen, Mythen, Weltgeschichte, Religionen und Kontinente verfangen. Acht Stunden, von nachmittags bis Mitternacht, ficht Bachmann mit diesem – ungekürzten – Welttheater-Wurf, ficht das opus magnum an mit allen (auch falschen) Mitteln, die einer Bühne zur Verfügung stehen, über die fünf Jahre lang die Dramen der Freizeitgesellschaft tobten.

Diese Basler Koproduktion mit der Ruhr-Triennale ist ein großes Abenteuer. Man ist erschöpft, verwirrt, auch über vieles verärgert und doch bereichert und geblendet von der Weite des Claudelschen Horizonts, wenn die Reise an ihr Ende kommt und man das Globus-Theater im Foyer des Großen Hauses verlässt, unter dem Arm den vorzüglichen blauen Programm-Reiseführer. 330 Zuschauer – Passagiere – finden hier Platz. Barbara Ehnes, die Bühnenbildnerin, hat eine gute Balance geschaffen. Der Raum wirkt noch intim und lässt sich dabei so einfach wie raffiniert dehnen. Dass die Schauspieler trotzdem in vielen Szene brüllen, als gelte es, eine verwehte Freilichtbühne zu beschallen, tut nicht Not; zumal Bachmann häufig Mikroports einsetzt zu den nicht sonderlich inspirierten Klangcollagen seines Regiekollegen Stefan Pucher.

„Der Seidene Schuh“, so könnte man es kurz machen, erzählt die schier endlos gestreckte Liebesgeschichte der Dona Proeza und des Don Rodrigo. Sie sind füreinander geschaffen – und laufen jahrzehntelang voreinander weg. En passant stürzen Reiche, versinken Flotten, werden neu entdeckte Erdteile kolonisiert, tobt der Glaubenskrieg zwischen Christen und Mauren. Claudel segelt mit Shakespeare und Caldéron im Rücken, mit Strindberg („Nach Damaskus“) und Melville an Bord ins Offene; und das Riesenstück gleicht wahrlich einem weißen Wal. Herbert Meiers neue Übersetzung, als Buchausgabe im Freiburger Johannes Verlag erschienen, hat den Text wieder hochseetheatertüchtig gemacht. Claudel ist zu entdecken!

Aber wo beginnen? Die Erde ist eine Scheibe, eine Nussschalen-Plattform im Universum des religiösen Liebeswahns. Man blickt auf ein schmales Rund, ein Mönch ist dort gekreuzigt, mit hässlichen Streifen silbrigen Klebebands. Einstieg auf wilder See – und am Ende (man sehnt und fürchtet es zugleich herbei) wird sich das Kreuzbild wiederholen. Bachmanns Regie baut mächtiges Pathos auf, anfangs tragen die Akteure auch noch strenges spanisches Schwarz (Kostüme: Annabelle Witt), um nachher im zeitgeistigen Trash zu landen.

Das ist der Riesenbogen, den die Inszenierung schlägt – vom altvornehmen Spanien des 16. Jahrhunderts nach Amerika, in die Kolonien. Und von dort schwappen Hybris und Gier in die alte Welt zurück, bringen Dekadenz und machtpolitischen Verfall. Spaniens König: am Ende in Gestalt des massigen Lustspielers Peter Kern, der „Let’s have a party“ säuselt und sich mit blonden Jünglings-Klonen umgibt, Abbild ultimativer Leere und Gleichgültigkeit. Die (damals einzige) Weltmacht Spanien unter Philipp II. als historische Rückspiegelung der USA unter George W. Bush: So changiert die Aufführung in ihren besten Momenten. Davon hat sie viele, wenn sie so hüpft und stolpert vom Land zum Meer, von der commedia dell’arte zum Experiment der Tragödie, von der Poesie zum Gepöbel, von der Schönheit zum Schund.

Wie ein DJ mixt Bachmann Spielformen und Temperamente und hält sich, allzu oft, die Claudelsche Seelenraserei entweder mit schriller Deklamation oder ironischer Distanzierung vom Leib. Daran liegt es, dass man dem asketisch-aseptischen Liebespaar nicht wirklich Glauben schenkt. Maria Schraders Dona Proeza wirkt steif in ihrer unbarmherzigen inneren Glut, nie kommt sie zur Ruhe, nie gönnt sie sich Stille. Und immer diese Opfer-Panik in ihren Augen. Jens Albinus’ Rodrigo schäumt vor Mut, ein Hitzkopf. Stets mit Gewalt durch die Wand. Albinus stammt aus Dänemark, aus dem Kreis um den Filmregisseur Lars von Trier. Das wollte Stefan Bachmann: Claudel als großes Gefühlskinoactiontheater. Ein Missverständnis. Aber acht Stunden Weihespiel, eurythmischer Claudel à la Dornach, das wär’s auch nicht.

Im Prolog heißt es: „Das Schlimmste trifft nicht immer zu.“ Und so ist es, Rettung für den Zuschauer lauert am Wegrand. Wenn am Ende des ersten Teils Josef Ostendorf als Don Baltasar mit nacktem Wanst allein an der Tafel zurückbleibt, die Pracht der Meeresfrüchte und die himmlische Musik der Liebe preisend, ehe er erschossen wird. Da bricht einem schier das Herz. Wenn am Ende von Teil zwei der Mond zu den Liebenden spricht und man zu einem anrührenden Schattenkussspiel die warme, brüchige Stimme Volker Spenglers hört. Da gehen alle Türen im Innern auf, und die Worte leuchten wie Sterne. Wenn der rasend komische chinesische Diener Rodrigos (Klaus Brömmelmeier) virtuos mit der Sprache kämpft – und Claudel ist für uns eine erwachende Fremd-Sprache. Da wird es zauberisch-grotesk.

Und dann: gewinnen im dritten und im vierten Teil unaufhaltsam die Wüstlinge, Vizekönig Rodrigo und Proezas Quälgeist Don Camillo (Sebastian Blomberg), die Oberhand. Längst ist der noble Don Pelayo, Proezas uralter Ehemann (Traugott Buhre), abgetreten. Brutale Fickszenen, die Zigarette danach, Travestie, Biersaufen. Video-Spielchen, die Sex-Puppe zum Aufblasen. Früher nannte man das Pop-Theater. Hier erscheint der Schweinkram wie ein staubiges Relikt.

Paul Claudel hat seinem Drama ein portugiesisches Sprichwort mitgegeben: „Gott schreibt auch auf krummen Linien grade.“ Selbst wenn die Basler am Ende in die falsche Richtung stürmen, per astra ad aspera, und sich verrennen im Flachen: Die Tour hat sich gelohnt. Claudels Geist ist aus der Flasche. In der Premierennacht wurde die Zeit umgestellt. Das war wohl kein Zufall.

Rüdiger Schaper

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