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Poet der Vielheit. Edouard Glissant. Foto: Alain Denantes/GAMMA/laif

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Kultur: Die Welt kreolisiert sich

Zum Tod des karibischen Dichters und Denkers Édouard Glissant

In unserem letzten Gespräch, er war schon müde und stützte sich auf einen Stock, erklärte er: „Die neuen Sprachen der türkisch-deutschen Jugendlichen, die Mehrsprachigkeit, der Umgang mit Vielheit – das interessiert mich, wenn ich nach Berlin komme.“ Aus diesem für Mai geplanten Besuch im Haus der Kulturen der Welt wird nun nichts mehr werden: Am Mittwoch ist Édouard Glissant, der bedeutendste Poet, Philosoph, Romancier und Essayist der französischsprachigen Karibik, mit 82 Jahren in Paris gestorben. Die Dringlichkeit seiner Argumentation gegen ein starres Schubladendenken in Kategorien von Identität und Ethnie, seine Neugier und die Kraft seiner politischen Anliegen waren beeindruckend. Regelmäßig äußerte er sich zur rückwärtsgerichteten Innenpolitik Frankreichs, welche die Kolonialvergangenheit beschönige und neue Mauern zwischen den Menschen errichte.

1928 auf Martinique geboren, kam er mit einem Stipendium der französischen Regierung 1946 nach Paris, um dort Geschichte, Literatur, Ethnologie und Philosophie zu studieren. Bald schon schloss er sich künstlerisch-literarischen Zirkeln an und engagierte sich in antikolonialistischen Bewegungen: Es war die Zeit Aimé Césaires, Frantz Fanons und Léopold Sédar Senghors. 1958 erhielt er den Prix Renaudot für seinen ersten Roman „Sturzflug – Das Lied von Martinique“ (La Lézarde), ein dichterisches Manifest für die postkoloniale Emanzipation der Antillen. Von 1982 bis 1988 war er Kulturpolitiker der Unesco, lebte auf Martinique, in den USA, wo er zunächst in Louisiana, dann in New York und in Paris lehrte, der Stadt, der er sein Institut du Tout-Monde schenkte.

Glissants Gesamtwerk umfasst Gedichte, Romane und philosophische Essays. Es „verknüpft Philosophie und Poesie in ihrer tiefsten und reinsten Form“, so der Philosoph Gilles Deleuze. Glissant legte seit den 80er Jahren Theorien zu Kreolisierung, Diversität und Differenz vor. Werke wie „Zersplitterte Welten – Der Diskurs der Antillen“ (1981) waren maßgeblich für die Herausbildung eines Interesses für Multikulturalität, Identitätspolitik und sogenannte Minderheiten-Literaturen. Er entwickelte sie vor allem in „Poétique de la Relation“ (1990) und „Kultur und Identität – Ansätze zu einer Poetik der Vielheit“ (1996) sowie im „Traktat über die Welt“ (1997) und der „Philosophie de la Relation“ (2009). Den Prozess der kulturellen Globalisierung hat er als einer der Ersten beschrieben. Schon früh widmete er sich dem Raubbau des Menschen an der Natur.

In Paris stellte er noch im vergangenen Oktober die Sammlung „La terre, le feu, l’eau et les vents“ mit Gedichten wichtiger Inspirationsmeister und Weggefährten vor, im selben Jahr erschienen seine Gespräche mit Lise Gauvin, „L’Imaginaire des langues“.

Glissants Texte zielen nicht auf ein abgeschlossenes Denksystem. Das Offene seines Werks fordert den Leser heraus, weil es ungewöhnliche Verbindungslinien aufzeigt. Eine pittoreske oder naturalistische Karibikliteratur war seine Sache nicht, vielmehr unterhielt er eine fließende Beziehung zum Text à la William Faulkner, dem er einen Essay widmete. Damit setzt er der das Fremde vermessen wollenden europäischen Tradition eine karibische Poetik der Vielstimmigkeit und der Gleichzeitigkeit verschiedener Zweitebenen entgegen. Die Undurchdringlichkeit des Anderen, das Nicht-Erklärbare, ist etwas Positives, so lautet eine seiner Thesen gegen die falsche Klarheit universalistischer Modelle im aktuellen Dokumentarfilm „Édouard Glissant: Un monde en relation“ des New Yorker Regisseurs Manthia Diawara.

Landschaft und Naturgewalten, Inseln und Wasser sind für ihn charakteristische Motive und Metaphern. Die Karibik ist für ihn ein Laboratorium der „Kreolisierung“. Ihre Sprachmischung aus afrikanischer Syntax, karibischen Wörtern und französischen Dialekten sieht er als exemplarisch für die Vermischung von Kulturen, aus der Neues entsteht. Die spezifisch archipelische Verfasstheit der Karibik macht sie zu einem Modell für das, was auf der ganzen Welt geschieht: „Ich behaupte, dass die Welt sich kreolisiert.“

Kreolisierung beinhaltet eine schöpferische Aneignung kultureller Vermischung unter Achtung und Bewahrung von Vielfalt und Heterogenität. Glissants seit 2006 herausgegebene Buchreihe „Völker am Wasser“ basiert auf zwölf Expeditionen von ausgewählten Autoren zu acht Völkern, die nur vom Wasser aus erreichbar sind, da sie auf abgeschiedenen Inseln, an Flussufern oder an Küsten leben. Hier erschien zuletzt auf Deutsch „Das magnetische Land“, eine Annäherung an die Osterinseln. Als „Black Atlantik“ ist das Meer in Glissants Werk aber auch Speicher historischer Traumata: Die grausame Schiffspassage, die Sklaven aus Westafrika in die Karibik und nach Amerika deportierte, lebt im Gedächtnis der Sklaven und ihrer Nachfahren fort.

Glissant wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis nominiert und wird von neueren frankophonen Autoren wie Patrick Chamoiseau oder Raphael Confiant rezipiert. Bei uns ist er dank der bewundernswerten Treue seines deutschen Verlags Das Wunderhorn in der Übersetzung von Beate Thills verfügbar. Dennoch hat dieser wichtige zeitgenössische Denker noch keinen gebührenden Resonanzraum in unserer Kulturtheorie, Philosophie und Globalisierungstheorie gefunden. Der Schatz, den uns dieser nicht nur karibische Autor hinterlässt, birgt unendliche Anregungen für zukünftige Entwürfe einer globalen Beziehungspoetik.

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