zum Hauptinhalt

Kultur: Die Zeit ist da

Irgendeiner wartet immer: Wie im „Kloster von der Menschwerdung“ Ewigkeit vergeht. Ein Selbstversuch

Schriller Warnton. Plexiglastüren schließen sich. Ein verspätetes Paar hastet über die Landungsbrücke, ich keuchend hinterher mit Sack und Pack. Das Schiff legt ab. Am Berg die Lichter von St. Pauli, oben irgendwo die Reeperbahn, drüben im Dunkel Harburg, der Vorort, wo Mohammed Attas Terrorzelle eingemietet war. Es geht stromabwärts. Spritzer rinnen über die Bugscheiben. Hinter dem Wasserschleier Positionslichter, Docks, Wolkenfetzen. 17.22 Uhr: Endstation Finkenwerder. Eine Zigarette. Noch ein Telefonat. Drei Busse fahren, immer die falsche Linie. Ein Taxi kommt: hat ein anderer bestellt. 17.47 Uhr kommt die richtige Linie. Irgendwo dahinten, bei den Scheinwerfern, könnte das Airbus-Gelände sein. Irgendwo auf dieser Insel soll vor über 60 Jahren ein KZ-Außenlager gewesen sein. Irgendwo im Nirgendwo ist die Endstation.

17.57 Uhr. „Sammelstelle bei Sturmflut“ steht an der Haltestelle. Ein Schild an der Mauer markiert den Pegel von 1962, fast zwei Meter hoch. Überm Eingang der Kirche ein Drahtrelief: Jesus zieht Petrus aus den Wellen. Die Tür geht schwer. Ich pfeffere mein Gepäck neben das Weihwasserbecken. Drei brennende Kranzkerzen. Die Augen gewöhnen sich. Da sitzen drei Nonnen. Knien, hocken im Dämmerlicht auf Gebetsschemeln. Das Draußen rauscht. Weit weg, wie eine große Muschel.

Im Gepäck habe ich die alltägliche Hippeligkeit. Überholte Zeitpläne, unerledigte Checklisten und die Frage, wie gescheite Leute, ohne durchzudrehen, darauf warten können, dass etwas Unverfügbares passiert. Warten ist eine Zumutung. So verrückt wie diese Wochen ist ja selten ein Jahresendparcours gewesen; immer mehr Termine quetschen sich in immer kleinere Arbeitsfensterchen, selbst der Advent hat keine vier Wochen, falsches timing raubt uns das letzte Quäntchen Zeit. In der „FAZ“ stand dieser Tage unter der Überschrift „Wir warten uns zugrunde“, dass Leerlauf – wie die volkswirtschaftlich böse Warteschlange am Frankfurter Airport – unsere Nation ruiniert. Mir sollen nun die Nonnen von Finkenwerder zeigen, wie man positiv wartet. Wer betet, kann nicht zugleich die Welt oder seine Karriere gestalten; wer viel betet, muss viel warten, damit andere das tun. Würde Weihnachten auch ohne unsere Vorbereitungsaction kommen? Ein 48-stündiger Selbstversuch also: Wie warten Leute, die jemanden erwarten?

Ich hatte mir für das Experiment zuerst die liturgische Lounge uralter Mönchsorden vorgestellt. „Der Name der Rose“ und „Die große Stille“. Gotische Gewölbe. Stattdessen finde ich mich nun als Besucher der „Karmelzelle von der Menschwerdung“ jenseits aller abendländischen Folklore in der Gummizelle unentrinnbarer Gegenwart. Die drei Unbeschuhten Karmelitinnen (so heißt ihr Orden) wohnen in einem Backsteinpfarrhaus und neben einer Kirche vom Ende der 50er Jahre. Auf dem Rasen liegt ein Weihnachtsbaum im Drahtgewand. Am Weg zum Mietshaus, in dem die Nonnen Gästewohnungen gemietet haben, springt ein Bewegungsmelder an.

Im Treppenhaus der Geruch von Putzmitteln, oben von neuen Ikea-Möbeln. Parkettlaminat. In der Küche Mineralwasser und Teebeutel, Zutaten für Brotzeiten. Die Küchenuhr tickt laut. Der Schreibtischlampenakku brummt. Das Schlafzimmerfenster geht auf die dunkle Haltestelle. Out of nowhere. „Um halb zehn sind wir noch mal in der Kirche“, hat die Priorin nach der Begrüßung gesagt. „Aber: Da ist nichts.“

Sie knien oder sitzen im Finstern. Mehr passiert nicht.

Das innere Gebet gilt als Kern karmelitischer Spiritualität. Der Orden beruft sich auf den Propheten Elia aus dem 9. Jahrhundert v. Chr., den man im Altertum als Erfinder des Mönchtums verehrte. Elias Leidenschaft für einen Gott, der lebt, dem er in der Einsamkeit begegnen wollte, nahmen im 13. Jahrhundert n. Chr. versprengte Kreuzfahrer zum Vorbild für ihr Eremitendasein am Berg Karmel in Nordisrael. Dort hatte der Gottesmann vor den „Baalspriestern“ regionaler Fruchtbarkeitsriten in einem dramatischen Showdown seine persönliche Vertrautheit mit „meinem Gott Jahwe“ demonstriert; später soll ein Feuerwagen ihn himmelwärts entrückt haben. Nachdem Mönche vom Karmel sich den Orden in Europa angeglichen hatten, gelang der Karmelitin Teresa von Avila eine Reform ihrer Gemeinschaft, orientiert an der strengen Ursprungsregel. Die starke Spanierin, Tochter eines vormals jüdischen Vaters, als Conversa und als Mystikerin von der Inquisition des 16. Jahrhunderts bedroht, entdeckte im inneren Gebet ihre „Freundschaft mit Gott“.

Ergeben sitze ich in der letzten Reihe, konfuse Gedanken im Kopf. Wer nicht so genau wie diese Nonnen weiß, ob Gott lebt oder ob man das überhaupt wissen will, muss warten, bis die 20 Minuten vorbei sind.

Es ist ja nicht so, dass wir Normalnervösen außerhalb der Karmelzelle ganz ohne Warten auskommen. Es gibt auch für uns Projekte, die noch nicht reif sind. Wir warten darauf, dass der Aufschwung ankommt oder das Ozonloch schrumpft. Es fällt nur bisweilen verdammt schwer, abzuwarten und Tee zu trinken. Das zyklische Wiederkehrbewusstsein der Baalspriester vom natürlichen Werden und Vergehen geht uns ebenso ab wie das Vertrauen auf den jüdisch-christlichen Fortschrittspfeil der Heilsgeschichte mit Happy End. Wir erwarten nicht mehr, Generationenvertrag ade, dass sich Baumpflanzungen oder Firmengründungen für die Nachgeborenen amortisieren. Das Leben amortisiert sich jetzt oder nie. Wir lieben den Schluss von „Spiel mir das Lied vom Tod“, wenn Claudia Cardinale den Charles Bronson bittet, in der Stadt zu bleiben: „Die Leute hier warten auf dich“, während Charles in die Ferne blinzelt: „Irgendeiner wartet immer.“ Klar, einer wartet immer, aber wir haben die Sache im Griff.

Wenn es Nacht ist im Gastzimmer, fehlt der Fernseher. In anderen Hotels gibt es Mitternachts-News und Mitternachts-Strip. Auch fehlt die Musik. Das Handy ist lautlos gestellt. Es kommen keine Anrufe. Irritierende Uhrzeiten finde ich auf dem Laptop (ohne Internet) und auf einer Armbanduhr, die trotz frischer Batterie nachgeht, auf einer Korridoruhr, die Sommerzeit mit 55 Minuten Differenz zur penetranten Küchenuhr anzeigt, und auf Urgroßvaters Taschenuhr, die man anstupst, damit sie läuft. Ich komme fast immer zu spät in die Kirche. Tagsüber sehe ich von der Küche aus eine Wiese mit Wäscheleinen. Einen Baum, unter dem Äpfel liegen, ein paar hängen noch an den Ästen.

Mein Zeitgefühl ändert sich. Ich bin ja frei wegzugehen, abends suche ich vergeblich eine Kneipe in der Nähe, trotzdem sind Raum und Zeitrahmen „irgendwie“ geschlossen. 7 Uhr: inneres Gebet. Dämmerungsstrahlen kriechen über bunte Kirchenfenster. Im Anschluss um 8 Uhr: Morgengebet. 11.45 Uhr Gewissenserforschung und Mittagsgebet, begleitet vom Schulkindergetöse gegenüber. Mittags kriege ich im Sprechzimmer des Klosterhauses Frikadellen mit Gemüse; die Schwestern essen karger, zwei Türen weiter. 17 Uhr Abendgebet, um 17.30 Uhr inneres Gebet. Um 19 Uhr Messe, mit wechselnden Priestern. Da sitzt man, schweigt, schaut. Ich grüble über Vergangenes, Versäumtes, über Präsens und Präsenz. Über verlorene, gefühlte, gefüllte, erfüllte Zeit, oder – zu Ehren der jüdischen Teresa – über gefilte Fisch (der schwer im Magen liegen soll). „Sie sind ja schon ein halber Mönch“, lächelt die Priorin mit einem Hauch von Spott. Ich murmele was von „knallharter Recherche“.

Vom Warten und von Erwartung ist die Rede in den Texten des Stundengebetes, das jeweils mit einer Beschleunigung beginnt: „Eile, uns zu helfen.“ Morgens und abends wird gesungen, mittags gesprochen. „Hört, eine helle Stimme ruft und dringt durch Nacht und Finsternis: Wacht auf und lasset Traum und Schlaf“. Müdigkeit und Kälte kriechen noch durch die Knochen. „Der Morgen kommt, der Tag bricht an: Ein neuer Stern geht strahlend auf ...“ Mit den Psalmen bricht Weltgeschehen in die Andacht ein. „Sie sagten: ,Wir zerstören alles.‘ Zeichen für uns sehen wir nicht. Kein Prophet ist mehr da. Niemand von uns weiß, wie lange noch.“ Die Sehnsucht bekommt einen Namen. „Schon leuchtet deine Krippe auf, es haucht die Nacht ein neues Licht“, singen sie. „Säume nicht länger ... O, komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes.“

Zwei Begegnungen im Sprechzimmer. Die Nonnen – Ende 30, um die 50 und Mitte 60 – kommen aus pädagogischen und therapeutischen Berufen, aus Frankfurt, aus Schwaben, aus Vietnam. Sie sind 1999 aus ihrem Mutterkonvent in Hessen aufgebrochen, um ihren Orden weiterzuentwickeln. Die Priorin kennt noch das Doppelgitter der klassischen Klausur. Die jetzige, „offene“ Form sei viel härter. Dass sie glücklich sind, sieht man. Sie haben keine festen Einkünfte, leben von Spenden und dem, was Gäste zahlen. Sie treffen sich zur Arbeitsplanung morgens, lesen und reden gemeinsam beim Mittagessen, üben nach der Abendmesse komplizierte gregorianische Gesänge; halten ansonsten, bei Büro- und Haushaltstätigkeit ihr Schweigen ein, das sie als Dasein vor Gott verstehen. So ist auch das innere Gebet gemeint. Es geht ihnen nicht um das buddhistische Nichts oder um den Transport vieler Fürbitten. Sondern um – „Wir sind da, Gott ist auch da“ – die Beziehung zu diesen Du, um Aufmerksamkeit auf das, was wirklich ist, um die Spannung, dass diese „Menschwerdung gelingt“. Was sonst passiert, erfahren sie aus der Zeitung, nehmen das Wichtige irgendwie mit in ihr kontemplatives Jetzt. „Ich warte auf einen neuen Himmel, eine neue Erde“, sagt die Vietnamesin. „Ich leide mit meinem zerrissenen Land, mit Menschen in Nahost. Mit Frauen, die uns erzählen, was sie durchmachen. Wenn man Gott näher kommt, wird das Herz weiter.“

Die Priorin sagt: „Wir warten eigentlich gar nicht, das klingt so nach ,Warten auf Godot‘.“ Theologen haben für das Zwischenzeitgefühl der Evangelien, die mal verkünden, eine neue Welt sei da, und dann wieder, die Vollendung stehe aus, den Begriff „eschatologischer Vorbehalt“ erfunden. Eschatologie ist die Lehre von der Vollendung der Welt. Die Karmelitinnen zwischen ihrem „schon jetzt“ und „noch nicht“ werden von den evangelischen Nachbarn geschätzt; zur Kirmes darf die Priorin das Bier anstechen, man sagt, „unsere Nonnen sind hier vor Anker gegangen“. Dabei ist ihre Erwartung der absoluten Gegenwart eine Provokation. Hätten sie recht mit ihrer Existenz, dann wären Ausbrüche aus der Ego-Zelle ewiger Selbstgespräche ins – transzendente – „Du“ tatsächlich möglich. Immerhin fühlt sich der Kopf hier nach 48 Stunden durchgepustet an. Zugleich keimt der Verdacht, man sei nicht allein.

Beim Abendgebet vor der Abreise sitzt eine rothaarige Frau in der Kirche. Als ich die Nonnen vorher nach einem Taxi gefragt hatte, meinten sie, das sei doch zu teuer. Ich verabschiede mich also von der Idee, zur Betriebsweihnachtsfeier in Berlin rechtzeitig aufzulaufen. Im Bus sitzt die Rothaarige, ich frage: Geht der zur Fähre? Ja. Ich überlege, ob im Bahnhof ein Internetcafé sein wird. Die Rothaarige sagt was zum Fahrer, der Bus hält an der Ecke. Ich sehe sie den Hang hochlaufen, sprinte hinterher: Die will das Schiff noch kriegen! Schriller Warnton. Ich stürze die nasse Schräge runter. Die Tür ist zu. Jemand öffnet, ich stolpere rein, die Rothaarige sitzt keuchend in der Ecke. Irgendwo brüllt ein Baby wie am Spieß. Ein Graubart mit Turban, in weißen Kleidern, sicher ein Weiser aus dem Morgenland, schaut durchs Bugfenster in die Dunkelheit. Der Strom geht ruhig, das Schiff legt ab, die Reise beginnt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false