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Kultur: Die zerrissene Nation

Amerikas Angst, Amerikas Chance: Wie das Trauma des 11.September die politische Gegenwartprägt/Von John C.Kornblum

11. September 2004. Plötzlich sind wir drei Jahre weiter. Trauer und Kummer scheinen überwunden. Und Ärger und Schmerz. Das Gefühl der Verletzung. Die politische Debatte. Die Sonderkommission hat einen detaillierten, erstaunlich lesbaren Report veröffentlicht, mit Enthüllungen über Schwachstellen und Fehler. Anklage und Gegenanklage, wer verantwortlich sei. Und, nicht zu vergessen, unzählige Sicherheitswarnungen.

Die Nachrichtendienste werden einer Neustrukturierung unterzogen. Der Präsident gesteht Fehler ein. Donald Rumsfeld ist faktisch von der öffentlichen Bühne verschwunden. Neuentwürfe für das Gelände des zerstörten World Trade Centers sind diskutiert und beschlossen.

Die Traumaforschung weiß, dass die Folgen eines Traumas Jahrzehnte andauern können. Beim nationalen Trauma des 11. September ist es noch komplizierter: Der aktuelle Präsidentschaftswahlkampf droht alte und neue Wunden aufzureißen. Zumal der Parteitag der Republikaner ausgerechnet in New York stattfand. Und während George Bush ein entschlossenes Image an den Tag legt, lernt John Kerry einmal mehr, dass die Geister der Vergangenheit, das amerikanische Trauma Vietnam, erstaunlich lebendig sein können. Die Auseinandersetzung mutet fast surreal an: Auf der einen Seite der Herausforderer, der sich freiwillig für den Einsatz an der Front meldete, um sein Land zu verteidigen, und der heute seine spätere Anti-Kriegs-Haltung verteidigen muss. Auf der anderen Seite der Sohn eines reichen Mannes, der nicht einmal den Kriegsersatzdienst ordnungsgemäß ableistete, und es doch fertig bringt, sich als Ausbund an Entschlossenheit darzustellen.

Zum ersten Mal seit Vietnam steht Außenpolitik wieder im Mittelpunkt eines Wahlkampfes. Dabei versuchen sowohl Bush als auch Kerry, die politischen und psychologischen Effekte einzusetzen, die Traumata mit sich bringen. Trotz der schwierigen Situation im Irak bleibt der 11. September auf diese Weise der heimliche Mittelpunkt der Debatten.

Dabei werden Amerikas Freunde zunehmend nervöser. Die beiden Kontrahenten vermitteln den Eindruck von streitenden Kindern, die mit Streichhölzern im Heuschober zündeln. Und der Rest der Welt sagt: ,Moment mal, ihr seid zu mächtig, ihr könnt euch nicht auf eure patriotischen Spielchen beschränken. Wir brauchen Führung, keine Fahnenparaden.

John Kerry versucht sich diese Unzufriedenheit zu Nutze zu machen: Nie sei das Ansehen Amerikas tiefer gesunken als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Deshalb verspricht er, nach seiner Wahl unverzüglich die UNO anzurufen und die Allianz mit den Verbündeten wieder aufzubauen. Aber diese Botschaft verfängt beim Wähler nicht. Mit Blick auf das vergangene Jahr und die harten Auseinandersetzungen in den Vereinten Nationen werden Europa und Multilateralismus in den USA oft mit Schwäche gleichgesetzt. Amerika ist Mars, Europa ist Venus.

Die Republikaner scheinen die Stimmung im Land besser zu erspüren. „George Bush würde niemals um Erlaubnis fragen, wenn er das amerikanische Volk zu verteidigen hat“, donnerte Vizepräsident Cheney den Delegierten in New York entgegen. Und ein abtrünniger demokratischer Senator aus Georgia, Zell Miller, meinte: „Kerry würde in Paris darüber entscheiden lassen, wann und wie Amerika verteidigt werden soll. Ich will aber, dass Bush das entscheidet.“ Nicht wenige vertreten die Auffassung, dass die katastrophalen Zustände im Irak Bush bei der Wiederwahl helfen könnten: da sie Gelegenheit bieten, angesichts einer andauernden terroristischen Bedrohung, offensiv Stärke zu demonstrieren.

Der Wahlkampf wird bald beendet sein; keinen der Kandidaten erwartet eine einfache Präsidentschaft. Der 11.9. ist da lediglich die Spitze des Eisberges. Der Tod Ronald Reagans im Sommer war deswegen ein primär emotionaler Moment, weil Amerika sich einer immer seltener werdenden Auszeit der Nostalgie hingeben durfte und sich in der Krise an vermeintlich einfachere, bessere Zeiten erinnerte.

Experten sind sich uneins, in welchem Ausmaß die amerikanische Bevölkerung tatsächlich polarisiert ist. Es gibt keinen Aspekt amerikanischen Lebens, der nicht einem radikalen Umbruch unterworfen wäre. Bürger aus allen Schichten der Gesellschaft sehen ihren Lebensstandard seit dem 11.9. bedroht. Dennoch sind die Terroranschläge von 2001 nicht der tatsächliche Grund für die mannigfaltigen Probleme, eher sind sie ein Katalysator. Unsere Sinne wurden geschärft für ein wachsendes Sicherheitsbedürfnis, für unsere Zukunft und die unserer Kinder. Der 11.9 hat uns eine Form der Bedrohung von außen vor Augen geführt. Nationale Themen wie der Arbeitsmarkt oder das marode Gesundheitssystem werden von der Debatte überdeckt, wie sich die Vereinigten Staaten bei der Überwindung weltweiter Krisen positionieren wollen. Dabei wird der Groll auf den Rest der Welt durch Selbstzweifel nur noch geschürt.

Nach nahezu 150 Jahren einer isolationistischen Haltung schienen die USA nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Misstrauen gegenüber einem Engagement außerhalb der Landesgrenzen überwunden zu haben; zunehmend wurde international kooperiert. Nun scheinen alte Ressentiments gegenüber dem Rest der Welt wieder aufzubrechen. Überwiegt der Stolz auf die vielfältigen kulturellen Wurzeln oder wenden wir uns gegen vermeintlich überholte Strukturen wie unsere Vorfahren, die die ,alte Welt’ aus genau diesen Gründen verließen? Wollen wir mit Partnern daran arbeiten Demokratie und Frieden voranzutreiben oder beschränken wir uns darauf, nur zu verteidigen, was uns selbst wertvoll erscheint?

Amerika durchlief eine ähnliche Krise nach Vietnam und Watergate. Damals gaben die USA ihre missionarische Rolle auf zugunsten einer Konzentration auf die Durchsetzung von Menschenrechten in multilateralen Kooperationen. Sinnbild dieser Politik war die Präsidentschaft Jimmy Carters, eines Präsidenten, der in Europa nahezu ebenso unbeliebt war wie heute George Bush. Er wurde als zu religiös und zu schwach kritisiert; Helmut Schmidt nannte ihn „diesen verdammten Prediger im Weißen Haus“.

Die Carter-Philosophie war eine Reaktion auf internationale Fehlschläge und nicht auf Angriffe von außen. Vietnam wurde zum Sinnbild eines fehlgeleiteten Kampfs gegen den Kommunismus, Watergate zum Inbegriff unsauberer politischer Machenschaften. Viele Amerikaner schauten damals nach Übersee, in der Hoffnung auf Rat. Carter selbst musste Lehrgeld dafür zahlen, dass ein zu unentschlossenes Amerika ebenso irritierend für seine Partner war wie ein aggressives, zu allem entschlossenes Amerika.

Führt man sich das Ausmaß der jetzigen Verwirrung vor Augen, so ist zu erwarten, dass der aktuelle Wahlkampf noch schmutziger und härter werden wird. Viel Geld wird bei der Beeinflussung auch der kleinsten noch unentschiedenen Wählergruppe zum Einsatz kommen. Der US-Wahlforscher John Zogby spricht von einer „Armageddon-Wahl“: Jede Seite vertritt die Auffassung, dass den USA bei einem möglichen Sieg des Gegners ein Armageddon bevorstünde.

Um es mit den Worten eines hohen Offiziellen der Bush-Administration zu sagen: Wenig von dem, was in den kommenden zwei Monaten gesagt und geschrieben wird, deutet auf den Weg hin, welchen die Regierenden in den nächsten vier Jahren einschlagen werden. Der Beamte empfahl dem Rest der Welt, einstweilen die Ohren vor den rhetorischen Eskapaden des Wahlkampfs zu verschließen und die Zeit danach abzuwarten. Trotzdem ist es jetzt schon ratsam, eine Agenda für eine bessere atlantische Zusammenarbeit zu entwickeln, unabhängig vom Ausgang der Wahlen.

Wenn ich mit meiner Analyse richtig liege, entscheidet sich die Qualität der europäisch-amerikanischen Beziehungen nicht unbedingt mit der Wahl des Präsidenten. Entscheidend wird vielmehr die Kenntnis der Zerrissenheit der US-Gesellschaft sein. Bisher haben die Europäer dies nur begrenzt verstanden. Anstatt die USA zur hegemonialen Übermacht zu erklären, deren einziges Ziel es ist, Freund und Feind zu kontrollieren, sollte man Amerika als einem mächtigen Partner und Freund entgegentreten, der seinerseits Partner und Freunde benötigt.

Diese Aufgabe könnte leichter zu bewältigen sein, als es im Moment scheint. Sollte Bush Erfolg mit seinen Bemühungen haben, den Wähler von der Richtigkeit seiner Politik zu überzeugen, sieht er sich doch weiter mit der Aufgabe konfrontiert, den Terrorismus zu bekämpfen, die Situation im Irak zu lösen und sich der Probleme im mittleren Osten anzunehmen. Der Ölpreis, die Verhinderungder Verbreitung von Kernwaffen, AIDS, der Klimawandel und mehr sind auf beiden Seiten des Atlantiks bedeutende Themen.

Kerry hingegen würde sein Amt mit einer großen Hypothek antreten. Er argumentiert, dass internationale Kooperationen die einzige Lösung für viele Probleme seien und sieht die Kooperation in der UNO als unumgänglichen Unterbau für dauerhaften Frieden im Irak. Und er vertritt die Auffassung, dass die USA über Institutionen wie die NATO mit der EU als gleichberechtigtem Partner zusammenarbeiten müssen. Es werden die Europäer, ganz besonders die Franzosen und Deutschen sein, die hierfür den Beweis liefern müssen. Die Erwartungen werden hoch sein, die Möglichkeiten spärlich.

Unsere Welt wird in zwölf Monaten eine Bessere sein, wenn Amerikas Freunde die Phase der Wahlkampfkakophonie nutzen, um herauszufinden, wie diese Zusammenarbeit verbessert werden kann. Nur so können neue, verbindliche Ideen transatlantische Zugkraft entwickeln.

John Christian Kornblum war US-Botschafter in Deutschland und ist Chairman der Investmentbank Lazard Deutschland. Aus dem Englischen von Sabine Bresser

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