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Kultur: Diese Eremitage der ganzen Welt

Museumsdirektor Michail Piotrowsky schreibt Kunst ganz groß und Politik lieber klein: ein Besuch in St. Petersburg

Die Eremitage in St. Petersburg ist nicht einfach ein Museum, das man nach hektischem Durchmarsch wieder verlässt, sondern eine eigene Welt, die den Besucher entrückt vom Getriebe draußen. Als eines der fünf weltweit bedeutendsten Universalmuseen ist sie groß genug, Tage und Wochen darin zuzubringen und im Zeitempfinden derart gründlich durcheinander zu geraten,wie es Alexander Sokurovs grandioser Film „Russian Ark“ in dem Riesenbau vorgeführt hat.

Aber das ist nur eine Seite. Die andere ist sehr viel profaner. Die Eremitage ist die größte Touristenattraktion St. Petersburgs, der Stadt an der Newa, Peters des Großen „Fenster zum Westen“. Dieses urbane Juwel ist angefüllt mit prächtigen Palästen und so unrussisch, wie man es seiner stadtbildprägenden italienischen Architekten Rastrelli, Quarenghi oder Rossi wegen vermuten darf. St. Petersburg hatte unter dem Sowjetsystem nicht seine besten Tage; den Verdacht westlicher Dekadenz wurde die Stadt nie los. Russlands Präsident Putin indessen, 1952 im damaligen Leningrad geboren, hat der Stadt seine Gunst bereits zur 300-Jahr-Feier im Jahr 2003 bewiesen; und der für Juli geplante G8-Gipfel wird gewiss für weitere Verschönerungen des pflegebedürftigen Stadtbildes sorgen.

Auch die Eremitage vergrößert sich. Der Palastkomplex der Zaren aus verschiedenen Entstehungszeiten, zuletzt 1837-52 vom damals führenden Museumsbaumeister Leo von Klenze aus München um die „Neue Eremitage“ erweitert, genügt den gewachsenen Ansprüchen nicht mehr. Es mangelt an Raum für die reichen Bestände des 19. und 20. Jahrhunderts, von zeitgenössischer Kunst ganz zu schweigen, und es mangelt an Raum für Wechselausstellungen, die sich bislang in den Hundertschaften der Säle verlieren und mitunter detektivischen Spürsinn zu ihrer Auffindung verlangen.

Michail Piotrowsky zählt zu den großen Museumsleuten der Gegenwart, nicht allein wegen der Größe des von ihm geleiteten, nicht weniger als 1170 Säle umfassenden Hauses, sondern der Vision und Energie halber, mit der er die ehrwürdige Institution in neue Zeiten führt. Dabei atmet sein Büro den Charme einer großen, auf liebenswerte Art stehen gebliebenen Vergangenheit. Zur Newa gelegen, türmen sich auf dem riesigen Schreibtisch des weltmännischen Direktors Berge von Akten, Büchern, Katalogen; aber nicht wie in einem überquellenden Büro, sondern wie in einer Gelehrtenstube, mit viertelstündlich schlagender Wanduhr. Piotrowsky spricht leise und gelassen, und die Zeit, die er sich für den Besucher aus Deutschland nimmt – noch dazu an einem Sonnabend –, macht vergessen, ein wie gewaltiger Betrieb diese Eremitage denn doch ist. Seit 1992 leitet der 61-Jährige die Eremitage – nur zwei Jahre, nachdem sein berühmter Vorvorgänger ein 26-jähriges Direktorat beendet hatte: sein eigener Vater.

Piotrowsky ist nicht eigentlich ein Wachstumsfetischist. Die Kapazität der Eremitage sieht er bei den gegenwärtig zweieinhalb Millionen Besuchern im Jahr, davon eine halbe Million aus dem Ausland, bereits erreicht. Die in jüngster Zeit forcierten Tourismusprogramme, um St. Petersburg auch in der dunklen Jahreszeit attraktiver zu machen, sieht er skeptisch – unkontrollierte Scharen von Billigtouristen, so Piotrowsky ohne Umschweife, bedeuten eher eine Gefahr für die historischen Monumente der Stadt.

Auch finanziell rechnen sich uferlos wachsende Touristenströme nicht unbedingt. 70 Prozent seines Budgets von umgerechnet 46 Millionen Dollar kommen vom Staat, der Rest ist selbst verdientes Geld. „Wir achten schon auf solche Aktivitäten, haben Freundeskreise überall auf der Welt – aber gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass wir kein kommerzielles Unternehmen sind.“ Kultur, insistiert Piotrowsky, der knallharte Budgetverhandlungen mit der Politik gewohnt ist, sei eine Pflichtaufgabe des Staates.

Das Augenmerk des Direktors liegt weniger auf absoluten Zahlen, als auf der Qualität des Besuchs. Ihm geht es darum, die Bestände „zugänglich“ zu machen. „Access“ ist eines seiner Lieblingsworte. Künftig sollen begehbare Depots eingerichtet werden. In dem dem Winterpalast gegenüberliegenden, halbrunden Generalstabsgebäude soll eine Dependance eingerichtet werden, vor allem für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts – ein Projekt, dessen Umfang den Vergleich mit dem Pariser „Grand Louvre“ nicht im mindesten zu scheuen braucht.

Zur Etablierung der Weltmarke „Eremitage“ tragen Zweigstellen im Ausland bei. Im vergangenen Sommer machte frühsowjetisches Propaganda-Porzellan in den „Hermitage Rooms“ in London Furore. London wie auch Amsterdam besitzen solche kleinen Zweigmuseen – dort war zuletzt eine Ausstellung über Nikolaus II. zu sehen; Appetitmacher, die aus den großen Touristenzentren des Westens Besucher an die Newa locken.

Ein weiteres Anliegen des Direktors ist – altmodisch gesagt – die Förderung des „guten Geschmacks“. Das umgreift auch die Korrektur historischer Vorurteile, wie jenes über Zar Alexander I. seitens des Nationaldichters Puschkin. Geschmacksbildung ist das Ziel der Ausstellungen zur modernen Kunst, wobei Piotrowsky auf die besten Namen Wert legt: „Sie wissen, die Hälfte der zeitgenössischen Kunst ist gut und die andere ist Täuschung.“ Und schließlich, da blitzt der Connaisseur in ihm auf, spricht er von „Gourmet-Ausstellungen“ – für diejenigen Kunstkenner, die die Qualität von Meisterwerken ohne didaktische Hilfen zu beurteilen und zu schätzen wissen.

Auch aus solchen Gründen lehnt es Piotrowsky ab, am Leihverkehr, den er für ein heutiges Museums für ganz und gar unerlässlich hält, im Falle von Allerweltsaustellungen teilzunehmen. „Wir leihen nichts zu ,Die Farbe Blau’ oder ,Die Blume in der Kunst’. Es muss sich um monografische Ausstellungen handeln, die den Stand der Wissenschaft vertiefen.“

Unmöglich bei einem deutschen Gesprächspartner, das Thema der Beutekunst auszulassen. Piotrowsky ist ein allzu gewiefter Diplomat, als dass ihm hierzu Äußerungen zu entlocken wären, die über den Rahmen der offiziellen Argumentation hinausgingen. Seine Bemerkung, Politiker und Journalisten sollten das Problem einmal ein halbes Jahr ruhen lassen, dann würden die Museumsleute binnen zehn Minuten eine Lösung finden, darf man kaum zum Nennwert nehmen. Doch der Hinweis, das umstrittene Duma-Gesetz von 1998 über die Verstaatlichung aller „Trophäen-Kunst“ in seinen wenn auch eher versteckten Möglichkeiten auszuloten, den Piotrowsky mit dem Beispiel der an die Marienkirche in Frankfurt/Oder zurückgegebenen Glasfenster illustriert, verdiente deutscherseits eine gründliche Prüfung. Verärgerung spricht aus der Erwähnung des Fehlschlags der Rückgabe der Bremer Baldin-Sammlung – die Kunsthalle Bremen fällt als private Einrichtung nicht unter das Duma-Gesetz –, die von voreiligen Politikern zunichte gemacht worden sei. Dass die Eremitage andererseits das 1945 aus Sanssouci geraubte und unlängst auf dem Moskauer Kunstmarkt aufgetauchte Rubens-Bild „Tarquinius und Lukrezia“ als „Leihgabe“ des derzeitigen russischen Privatbesitzers zeigt, gleichwohl die deutsche Provenienz des Bildes korrekt wiedergibt, unterstreicht die politisch ausgefuchste Haltung Piotrowskys.

Um so interessanter ist dessen gegenüber dem auftrumpfenden Gebaren des Moskauer Puschkin-Museums so ganz andere Tonlage. Für die Nationalisten seines Landes, die bei jeder Andeutung einer möglichen Rückgabe sofort Verrat am Sieg im Großen Vaterländischen Krieg schreien, hat er nur ein Achselzucken übrig. Er betont unablässig die Bedeutung von Kooperationen, beispielsweise ein Tagungsvorhaben zum Vergleich der Entwicklung von Eremitage und Berliner Museumsinsel. „Alte Museen sind eigenwillig, aber höfliche, intelligente Beziehungen zwischen ihnen sind wohl manchmal für Politiker nicht interessant genug.“ So betont der Direktor auch, dass alle Museumsschildchen die Herkunft der Objekte anzeigen. „Wir verfolgen eine ganz normale, respektvolle Politik mit unseren deutschen Kollegen“, kommt Piotrowsky immer wieder auf dieses heikle Thema zu sprechen. „Wir müssen in allererster Linie an die Kunst denken. Das ist der Kern all unserer Aufgaben.“

Draußen ist es dunkel geworden in den kurzen Petersburger Wintertagen. In Michail Piotrowskys klassizistischem Büro scheint die Zeit wohltuend entrückt zu sein. Doch der Schein trügt. Beim Abschied drückt die Direktor seinem Besucher das „Hermitage Magazine“ in die Hand. Darin werden die ausgreifenden Pläne zum Umbau des Generalstabsgebäudes mit seinen 806 Räumen dargestellt. Projektberater ist kein anderer als Rem Koolhaas, der Radikal-Modernist unter den Architekten. Die Eremitage geht mit der Zeit – weil sie es sich leisten kann, in ihrer eigenen Geschichte zu ruhen.

Michail Piotrowsky, 1944 in Eriwan geboren, hat in Leningrad und Kairo Orientalistik studiert. Seit 1992 leitet er die Staatliche Eremitage. Er ist

Professor an der Universität Petersburg.

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