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Kultur: Dieses arme reiche Theater!

Das britische Theater leidet an einem ständigen Paradox: berühmt auf der ganzen Welt, sind die Subventionen zuhause knapp, bis an die Existenzgrenze.Seine Dramatiker aber, von Harold Pinter und Alan Ayckbourn bis zu Sarah Kane und Mark Ravenhill, gehören zum Erfolgsrepertoire der europäischen Szene.

Das britische Theater leidet an einem ständigen Paradox: berühmt auf der ganzen Welt, sind die Subventionen zuhause knapp, bis an die Existenzgrenze.Seine Dramatiker aber, von Harold Pinter und Alan Ayckbourn bis zu Sarah Kane und Mark Ravenhill, gehören zum Erfolgsrepertoire der europäischen Szene.Seine Schauspieler, Anthony Hopkins, Ralph Fiennes, Alan Rickman und Emma Thompson zum Beispiel, sind als Fimstars auch in Hollywood begehrt; seine tournierenden Truppen, angeführt von Simon McBurneys auch in Deutschland umjubelten Londoner Theatre de Complicite und Cheek by Jowl, werden international gefragt.Dennoch ist die Geschichte der letzten zehn Jahre eine Geschichte wiederholter Krisen, steigender Schulden und des täglichen Überlebenskampfes.Wie kommt es, wundert man sich gelegentlich, daß fast jedermann das britische Theater zu bewundern scheint - außer den Briten selbst?

Das eigentlich Problem ist das Geld.Erst spät haben die Briten das Konzept der öffentlichen Kulturförderung entdeckt, haben es sich im Rausch der 60er Jahren mit mäßigem Enthusiasmus zueigen gemacht, um in den schroffen Jahren des Thatcherismus die Künste dann wieder auf Diät zu setzen.Und in den letzten sechs Jahren ist die staatliche Subvention zum völligen Stillstand gekommen.Das Resultat: Kürzungen und Schließungen.Der Gipfel der Absurdität wurde im ersten Jahr von Tony Blairs neuer Labour-Regierung erreicht.Am einen Ende des Londoner Stadtteils Greenwich wird am 750 Millionen Pfund teuren Millenium Dome gebaut, der den Pomp eines Albert Speer mit dem platten Populismus eines Walt Disney verbindet; am anderen Ende des Bezirks mußte das exzellente Greenwich Theatre, Heimstätte von Talenten wie Kenneth Branagh, Jonathan Miller und Anthony Minghella, aufgeben, weil seine kümmerliche Subvention von 200 000 Pfund gestrichen worden war.

Jetzt endlich leuchtet ein Licht am Ende des Tunnels.Die Labour Regierung scheint der Vorwurf des Banausentums doch zu schmerzen, und Anfang Juli hatte Tony Blair führende Vertreter der Kultur in die Downing Street geladen, um sich ihre Sorgen anzuhören.Was noch wichtiger ist: Schatzkanzler Gordon Brown hat kürzlich erklärt, daß nunmehr Bildung und Gesundheit Priorität genössen.So wird auch das Kulturressort in den nächsten drei Jahren zusätzliche 290 Millionen bekommen.Ein Großteil des Geldes ist für Museen und Galerien vorgesehen, wieviel an die darstellenden Künste gehen wird, ist noch nicht bekannt.

Kurzfristig allerdings bleiben die Probleme des britischen Theaters bestehen.Lange Zeit wurde die Szene von zwei Vorzeigetruppen dominiert: der Royal Shakespeare Company und dem National Theatre.Bis zu einem gewissen Maße gilt das immer noch.Aber die Zwillingsherrschaft ist längstens Wanken geraten durch zwei kleinere, schlankere Einrichtungen, die in London heute eine sehr viel stärkere Kreativität an den Tag legen: das Royal Court und das Almeida.

Das Royal Court ist schon seit 1956 wichtiger Bestandteil der britischen Theaterszene.Aber in den letzten Jahren hat es eine außergewöhnliche Wiedergeburt erlebt.Hier hat eine neuen Generation harter, brutaler, antikapitalistisch-sozialkritischer Autoren eine Heimat gefunden, von denen Mark Ravenhill mit "Shopping and Fucking" und Sarah Kane mit "Blasted" ("Zerbomt") die bekanntesten sind.Aber das Royal Court hat mehr zu bieten als nur Sex, Gewalt und Schock-Effekte.Sein größter Erfolg der jünsten Zeit, der im Oktober nochmal am Royal Court auf dem Spielplan steht, bevor die Aufführung nach New York an den Broadway weiterwandert, ist ein zärtliches, lyrisches Stück des 26jährigen irischen Autors Conor McPherson mit dem Titel "The Weir" ("Das Wehr").Angesiedelt in einer Kneipe im irischen Hinterwald, handelt es von einer Gruppe örtlicher Trunkenbolde, die Geistergeschichten erzählen, um einen weiblichen Neuankömmling gleichermaßen zu ängstigen wie zu beeindrucken.Es kann gut sein, daß sich "The Weir" als bestes englischsprachiges Stück der neunziger Jahre entpuppt.Darüberhinaus hat das Royal Court im letzten Jahr in Zusammenarbeit mit dem Theatre de Complicite eine der besten Inszenierungen des Jahrzehnts hervorgebracht: Simon McBurneys Bearbeitung von Ionescos "Die Stühle".Ionesco, Inbegriff des absurden Theaters der Fünfziger, ist inzwischen aus der Mode gekommen, aber McBurneys Inszenierung, die anschließend zum Hit auch am Broadway wurde, hat das Stück radikal neu gedacht: Sie zeigt, daß Ionescos Vision vom "Nichts" ausgelassenes, wildes Theater ist und der philosophische Pessimismus des Stücks einen sublimen Humanismus verdeckt.In diesem Herbst will das Royal Court eine der wohl spannendsten Aufführungen des Jahres zeigen: eine Ein-Mann-Show, "Via Dolorosa", geschrieben und gespielt von David Hare, in der der 50jährige Dramatiker, Film- und Theaterregisseur seinen ersten Besuch in Israel und Palästina reflektiert.

Nach einer Zeit des vorübergehenden Exils wird das Royal Court im Oktober 1999 in sein umfassend renoviertes Haus am Sloane Square in Chelsea zurückkehren.Das Gebäude des Almeida, das auf einer ähnlichen Welle des künstlerischen Erfolges schwimmt, ist ein inzwischen renoviertes wissenschaftliches Institut aus dem 19.Jahrhundert, das Pierre Audi (im Augenblick Intendant der Amsterdamer Oper) 1978 in eine Spielstätte umgewandelt hat und das 1990 von zwei Schauspieler-Regisseuren, Jonathan Kent und Ian McDiarmid, übernommen wurde.Die Liste ihrer Erfolge ist beispiellos: Ralph Fiennes in "Hamlet" und Tschechows "Iwanow", Diana Rigg in "Medea" und "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", dazu neue Stücke von Pinter und David Hare, es wurde Brecht adaptiert und Shaw wie ein Zeitgenosse inszeniert.Die beiden Almeida-Leiter haben auch ein besonderes Talent, Stars für die bescheidene Gagen von 220 Pfund pro Woche anzulocken.Kürzlich haben sie Juliette Binoche in Pirandellos "Die Nackten kleiden" präsentiert, Liam Neeson in einem neuen David Hare-Stück über Oscar Wilde ("The Judas Kiss") gezeigt, und noch im Laufe dieses Jahres wird das Almeida Diana Rigg in West-End-Inszenierungen von Racines "Phädra" und "Britannicus" präsentieren.

Der Erfolg des Almeidas beruht auf dem Flair des Theaters, auf Phantasie und der Fähigkeit, bescheidene öffentliche Fördermittel mit kommerziellen Sponsorengeldern zu ergänzen.Die Lehre daraus dürfte sein, daß die nationalen Vorzeigebühnen sich selbst neu erfinden müssen: Sie müssen einen Weg finden, ein breitgefächertes Repertoire mit einem größeren Maß an Freiheit und Flexibilität zu verknüpfen.Das Problem ist am National Theatre weniger akut, wo Trevor Nunn im letzten Oktober den Posten des Intendanten von Richard Eyre übernommen und dabei auch ein lebendiges Repertoire geerbt hat, zu dem ein neues Stück von Tom Stoppard zählt sowie ein vorzüglicher "Othello" unter der Regie von Sam Mendes.Nunns Sommerprogramm allerdings enthält zwar Michael Frayns Heisenberg-Drama zum Thema wissenschaftler Moral, "Kopenhagen" (vgl.Tsp.vom 28.6.98) wird jedoch geprägt durch biedere Wiederaufnahmen von "Oklahoma!" oder "The Prime of Miss Jean Brodie." Haben wir wirklich ein Nationaltheater gegründet, um amerikanische Musicals und Adaptionen von Muriel Sparks Romanen auf die Bühne zu bringen?

Die Royal Shakespeare Company dagegen scheint in einer sowohl finanziellen wie künstlerischen Krise zu stecken.Das Theater hat in den letzten Jahren schwer unter Kürzungen der Subventionen gelitten.Gleichzeitig hat man in Stratford wie in London am laufenden Band den immergleichen Reigen populärer Shakespeare-Stücke in mittelmäßigen, meist hochkonventionellen Inszenierungen produziert.Es gibt aber Anzeichen, daß nach der Kritik auch das Publikum zu rebellieren beginnt: eine "Was ihr wollt"-Aufführung in Stratfords berühmtem Royal Shakespeare Theatre war nur zu zehn Prozent ausgelastet.Intedant Adrian Noble ist sich des Problems bewußt und hat Pläne, sowohl das Shakespeare-Repertoire zu erweitern als auch an Inszenierung anzuknüpfen wie zuletzt eine atmosphärisch dichte, mit jungen Schauspielern besetzte Version von "Onkel Wanja" unter der Regie von Katie Mitchell und eine glänzende Inszenierung von Yasmina Rezas "Der Mann des Zufalls" mit Michael Gambon und Eileen Atkins (Tsp.vom 6.5.98).Trotzdem herrscht der Eindruck, daß die RSC durch eine Identitätskrise geht: daß man durchhält ohne den künstlerischen Impuls, ohne die Erregung, die in den sechziger Jahren vor allem Peter Brooks Aufführungen hervorbrachten.

Am Ende hängt natürlich vieles an den Subventionen, und das Fazit ist, daß in Zeiten eingefrorener Budgets die kleinen Theater am besten abgeschnitten haben: Bühnen wie das Royal Court und das Almeida.Sie engagieren Schauspieler für kürzere Zeiträume, bringen Stars und aufregende Projekte zusammen, werden weniger von der Bürokratie erdrückt und locken pfiffig amerikanische Sponsoren an.Denn trotz aller Versprechungen des Schatzkanzlers bleibt Geld, verglichen mit den deutschen Subventionsmilliarden, ein ganz besonderer Stoff im britischen Theater.

Michael Billington, Mitarbeiter des "Guardian" und der BBC, ist Englands renommiertester Theaterkritiker und Autor von Büchern über Alan Ayckbourn und Harold Pinter.Deutsch von Susanne Kippenberger

MICHAEL BILLINGTON

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