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Raum für Möglichkeiten. Olympiastadion und Maifeld während des Lollapalooza Festivals 2019 vom Olympia-Glockenturm aus gesehen.

© Christoph Soeder/dpa

Diskussion um den Olympiapark: Mehr Europa wagen

Entsorgung von Nazi-Architektur und ein neues Stadion für Hertha: Ein Plädoyer dafür, das ehemalige Reichssportfeld jetzt als Chance zu begreifen.

„Der Olympiapark Berlin mit dem Olympiastadion“, so die Website der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, „gehört zu den bedeutendsten Sportanlagen des 20. Jahrhunderts in Europa.“ Und weiter: „Heute ist der Olympiapark Berlin wieder ein lebendiger Teil der Hauptstadt.“ Lebendig, fürwahr: Der Park ist erneut zum Thema gesellschaftlicher Debatten geworden. Auch in dieser Zeitung. Selbst der Ruf nach Entsorgung ärgerlicher Geschichtszeugnisse ist wieder da. Dazu kommt der drängelnde Wunsch von Hertha BSC, auf dem Gelände ein neues Stadion bauen zu dürfen. Diese Gemengelage ist eine große Chance! Denn wir müssen gerade angesichts des Aufflammens erinnerungspolitischer Kontroversen in ganz Europa unser Handeln und Denken immer wieder neu justieren.

1936 hieß der Olympiapark noch Reichssportfeld – das klingt deutsch, national, einzigartig. So waren die Zuschreibungen damals auch in der Propaganda, in den Bildbänden, den Reiseführern. So hieß es auch – nunmehr negativ gewendet – nach 1945, eigentlich bis heute. War das aber auch so? Die neue Debatte über den Olympiapark könnte helfen, diesen introvertierten Blick wieder zu öffnen – über unsere Grenzen hinaus, in Richtung Europa.

Rom, 1. September 1960. Ein Höhepunkt der Olympischen Spiele: 100 Meter Lauf. Sieger: ein Deutscher, Armin Hary. An meinem Geburtstag! Es war großartig. Aber wo genau dieser Lauf stattfand, wussten wir nicht, war eigentlich auch egal. In Rom natürlich, im dortigen Stadio Olimpico. Dieses Stadion sollte ursprünglich die Olympischen Sommerspiele 1940 beherbergen. Es war Teil des Foro Mussolini, des ersten städtebaulichen Großprojekts der faschistischen Diktatur. In den Jahren 1928 bis 1933 entstand nach Entwürfen des Architekten Enrico Del Debbio am Fuße des Monte Mario, einer Gegend von besonderem landschaftlichem Reiz, eine ausgedehnte Sportlandschaft – mit einer Faschistischen Akademie für körperliche Erziehung und einem Marmorstadion (Stadio dei Marmi) mit 60 etwas dumpfen Muskelprotzen aus Carrara-Marmor. Die Athleten sollten die 60 Provinzen Italiens symbolisieren.

Vorbild und Konkurrent des Reichssportfelds war der Sportpark von Rom

Hintergrund des Baus der Sportstadt war die große Bedeutung, die seitens der Diktatur der „körperlichen und geistigen Bildung“ der Jugend beigemessen wurde. Ihr Zentrum war das Stadion der Zypressen, das spätere Stadio Olimpico. Städtebaulich war der Sportpark sorgfältig in die Landschaft eingebunden, die Bauten zeigten eine moderne Architektur. Den Auftakt der zentralen Achse bildete seit 1932 ein über 17 Meter hoher Obelisk mit der Aufschrift „Mussolini Dux“ nach Plänen von Costantino Costantini. Am 4. November 1932 wurde das Foro Mussolini eingeweiht.

Der römische Sportpark war bereits vorhanden, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Französische, englische und holländische Kommentare zeigten die internationale Wertschätzung des römischen Projekts. Auch der US-Botschafter in Rom äußerte seine Bewunderung. Für die Nationalsozialisten war der Städtebau der Diktatur südlich der Alpen oft ein Vorbild, das es aber zu übertrumpfen galt. Auch im Falle des Reichssportfeldes. In Berlin wurde ebenfalls eine Sportlandschaft geplant. Und auch auf eine Verbindung von Landschaftsarchitektur, Architektur und bildender Kunst unter dem Taktstock des Städtebaus wurde großer Wert gelegt. Die italienische Idee, im Sportpark die nationale Dimension durch einen symbolischen Bezug auf alle Provinzen zu betonen, wurde im Olympischen Dorf bei Berlin wieder aufgegriffen. Dort erhielten die Bauten die Namen von Städten des Deutschen Reiches

Nach dem „siegreichen“ Krieg des faschistischen Italien gegen Äthiopien 1935 und der folgenden Proklamation des neuen faschistischen Imperiums erhielt der heute wieder geschätzte Architekt Luigi Moretti den Auftrag, den Sportpark imperial auszubauen. In diesem Kontext wurde die zentrale Achse neu gestaltet. Entlang der 280 Meter langen Achse (Piazzale dell’Impero) wurden Steinplatten aufgestellt und antikisierende Mosaiken verlegt, die den faschistischen Schwur zeigen und in chronologischer Form von den Taten des faschistischen Italien kündeten. Auf dem Mosaikboden konnte man „Duce a noi“ (Führer mit uns) lesen. Insgesamt wurde der Name Mussolini 264 Mal erwähnt. Damit war der aufwändigste und härteste Kultort der faschistischen Diktatur entstanden – zweifellos auch eine Antwort auf das Reichssportfeld, eine weitere Spirale der städtebaulichen Konkurrenz zwischen den Diktaturen. Inzwischen hatte Italien zugunsten von Tokio auf die Olympischen Spiele 1940 verzichtet, sich aber um 1944 beworben.

Ziel der Bauten: Wer die Jugend beeinflusst, herrscht über die Zukunft

Heute ist das Foro Mussolini, nun Foro Italico genannt, vernachlässigt, teilweise überformt, aber im Grundsatz noch erlebbar. Der Obelisk samt Inschrift „Mussolini Dux“ ist noch vorhanden, auch die an die faschistischen Taten und an Mussolini erinnernden Steinplatten und Mosaiksteine. Zu den Platten wurden freilich drei hinzugefügt – sozusagen als Fortsetzung der faschistischen Geschichtsschreibung. Das Mussolini verherrlichende Mosaik der zentralen Achse wurde für die Olympischen Spiele 1960 akkurat restauriert.

Noch heute lässt sich erkennen, was damals wiederhergestellt wurde. Das Marmorstadion mit seinen Skulpturen steht noch, nur das Olympische Stadion wurde anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1990 (Endspiel: Weltmeister Deutschland) neuen Erfordernissen angepasst, so dass es sich heute als Fremdkörper darstellt. Es dient den beiden rivalisierenden römischen Fußballvereinen Lazio und AS Roma als Spielstätte. Der Bezug zum Monte Mario ist durch eine für Fußgänger unüberquerbare autobahnähnliche Schnellstraße erheblich gestört. 2006/07 würdigte eine große Ausstellung über den Architekten Del Debbio die Qualität des Sportparks.

In der nationalsozialistischen Propaganda zum Reichssportfeld war Rom kein Thema. Es herrschte dröhnendes Schweigen: Rom? Kennen wir nicht. So schien es jedenfalls. Carl Diem, Generalsekretär des Organisationskomitees der Spiele in Berlin, eine zentrale Figur bei der Planung des Reichssportfelds, hatte freilich 1934 Rom besichtigt, um sich dort Anregungen zu holen. Sportanlagen waren ein internationales Thema. Und in dieser Zeit wurden einige große Sportanlagen errichtet, vor allem durch Diktaturen. So startete die portugiesische Diktatur 1933 ihre Pläne für einen riesigen Sportpark im Jamor-Tal an der Costa do Sol westlich von Lissabon – zuerst mit Unterstützung von Costantino Costantini aus Italien, dann von Konrad Wiesner, dem Assistenten von Heinrich Wiebking-Jürgensmann, der für die Landschaftsarchitektur des Reichssportfelds zuständig war.

Der Olympiapark muss in den europäischen Kontext gerückt werden

Mit Verzögerungen konnte der Sportpark 1944 eröffnet werden. Auch in Francos Spanien wurden Sportanlagen gebaut. Das 1944-47 errichtete Stadium Santiago Bernabéu, Spielstätte des Fußballklubs Real Madrid, war ein zentrales Projekt der Franco-Diktatur. Es stärkte die wichtigste städtebauliche Achse der Diktatur, die Avenida del Generalísimo, heute Paseo de la Castellana. An der Planung dieser Achse war der deutsche Städtebauer Hermann Jansen maßgeblich beteiligt, der auch im Rahmen der Generalbebauungsplanung von Albert Speer aktiv war.

Großstadien und Sportparks gehörten nicht nur, vor allem aber für die Diktaturen Europas zu den wichtigsten baulichen Projekten im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts. Wie neue Hochschulstädte und Großprojekte der Verkehrsinfrastruktur dienten sie nicht nur zur diktatorischen Modernisierung ihrer Länder, sondern auch der Demonstration der Überlegenheit gegenüber anderen Staaten. Zuallererst aber sollten sie eine breite Zustimmung zur Diktatur durch die eigene Bevölkerung fördern. Der Zweck war offensichtlich: Wer die Jugend beeinflusst, herrscht über die Zukunft. Im Jahr 1936 waren die Nationalsozialisten erst drei Jahre an der Macht, ihre Architektur, ihr Städtebau und ihre bildende Kunst waren noch auf der Suche. Daher war es notwendig, dieses erste, in kurzer Zeit realisierte große Staatsprojekt als deutsch mit deutschen Wurzeln zu propagieren.

Wir sollten uns davon nicht blenden lassen. Hitlers Deutschland war in einem heftigen Wettbewerb auch auf dem Gebiet der räumlichen Gestaltung. Vor allem mit Italien. Von dort kamen auch nicht nur freundliche Worte. In der von Marcello Piacentini, dem einflussreichsten Architekten des faschistischen Italien, herausgegebenen Zeitschrift Architettura aus dem Jahr 1939 waren dem Reichssportfeld gleich neun Seiten gewidmet, mehr als jedem anderen Großprojekt. Das Gesamturteil war diplomatisch vernichtend: „In Deutschland setzt sich der Meter heute aus tausend Zentimetern zusammen. Die Architektur ist gewollt offiziell. In diesen kannelierten Pilastern, nicht grob, aber stark und männlich, sieht man ein militärisches Temperament und es scheint als ob man eine Parade abschreiten müsste, alle so in Reihe und Glied wie in Uniform. Ein Urteil über diese Bewegung kann niemand geben, wir müssen auf ihre organische Entwicklung warten.“

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Heute eröffnet sich die Chance, am Beispiel des Reichssportfeldes an all diese Zusammenhänge zu erinnern. Eigentlich stehen drei Themen auf der Tagesordnung: (1.) eine komplexere Bewertung der nationalsozialistischen Sportlandschaft vor dem Hintergrund erweiterten Wissens, immer verbunden mit der Frage nach den erfolgreichen Mechanismen der diktatorischen Propaganda. Wie hieß es doch ganz unverblümt in der Broschüre zum Olympischen Dorf von 1936: „Dorf des Friedens“ – „erbaut von der Wehrmacht“. (2.) Eine umfassende Betrachtung der Nutzungs- und Rezeptionsgeschichte seit 1945 mit all ihren Facetten, einschließlich der Konzerte der Rolling Stones. Und – (3.) bislang völlig unterbelichtet – eine Einordnung der Anlage in den europäischen Kontext, auch in den Kontext der extrem unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Europa. Europäisieren, nicht wegschauen, zudecken, wegsperren, zubauen oder gar abreißen – das wäre eine angemessene zeitgenössische Antwort. Nur so kann jeder nationalistischen Indienstnahme entgegengetreten werden.

Der Autor, Jahrgang 1946, ist Soziologe und Stadtplaner und lehrte als Professor an der TU Berlin.

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