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Kultur: „Dochunda“, die Zweite

Wie der Tüftler Nikolaj Iswolow einen verschollenen Sowjet-Spielfilm neu erfand – aus Fotos, Zeichnungen und Tondokumenten

Der Abspann kommt am Anfang: eine tiefschwarze Leinwand, dann tauchen die Namen auf, um Sekunden später wieder vom Dunkel aufgesaugt zu werden, aus dem sie gekommen sind. Es ist totenstill. Keine Musik, nicht einmal das leise Knistern und Knacken, wie man es bei alten Schwarzweißfilmen erwartet. Denn der Film, den der Projektor im Moskauer Institut für Filmkunst gerade auf die Leinwand wirft, ist ein toter Film.

Genauer, es war ein toter Film: „Dochunda“. Romeo und Julia auf Usbekisch, aber mit Happyend. Da ist Jodgor: Er wird 1920, als der russische Bürgerkrieg Zentralasien erreicht, in die Leibgarde des Emirs von Buchara eingezogen. Und sein Mädchen: Gulnar soll an einen Bey, einen alten Reichen, verheiratet werden. Beide fliehen, jeder für sich allein. Erst beim Sturm Bucharas durch die Rote Armee finden sie sich wieder. 1936 wurde „Dochunda“ nach einem Roman des Tadschiken Sadriddin Aini gedreht – nun wird er, nein, nicht restauriert, sondern rekonstruiert.

Der Unterschied? Restauratoren – sie haben mit altersschwachem Zelluloid zu tun – operieren immer am lebenden Patienten. Bei der Rekonstruktion dagegen stehen nur einzelne, erhaltene Einstellungen und die Schnittlisten zur Verfügung. Im schlimmsten Fall sind nur Szenenfotos von den Dreharbeiten erhalten.

Nikolaj Iswolow, der Rekonstrukteur, ist im Nachlass von Regisseur Lew Kuleschow fündig geworden. Seine Wieder(er-)findungsarbeit dürfte in der Filmgeschichte einmalig sein – und schlägt den Zuschauer in Bann, 60 Minuten lang. Beim Festival in Rotterdam Ende des Monats läuft das Werk erstmals vor internationalem Publikum.

Mit „Dochunda“, dem ersten zentralasiatischen Sowjet-Spielfilm, sollten – reichlich Bombast vorausgesetzt – jene Menschen gewonnen werden, die dem Kommunismus noch kritisch gegenüberstanden. Eine Art „Titanic“-Projekt, mit einem für damalige Zeiten ähnlich astronomischen Budget. Bevor die erste Klappe fällt, probt Kuleschow alle Szenen – ohne Dekorationen, vor schwarzem Hintergrund. Die Fotos, die dabei gemacht werden, sind reines Arbeitsmaterial, entsprechen aber exakt jenen Einstellungen, die Kuleschow auf Zelluloid bannen will. Ein Ring in Großaufnahme. Dann die Mädchenhand mit dem Ring. Dann ein Brustbild des Mädchens mit Hand und Ring. Dann ihre Augen.

Den schwarzen Hintergrund auf den Fotos ersetzt Kuleschow, eigentlich Maler, durch Zeichnungen und Miniaturen in Schwarzweiß. Dabei entstehen Bilder, holzschnittartig reduziert wie bei Franz Masereel. In der Rekonstruktion sind diese Bilder sparsam animiert. Spätestens bei Minute zehn hat der Zuschauer vergessen, dass er in einem toten Film sitzt. Die Dialoge hat Rekonstrukteur Iswolow aus den vergilbten Seiten des Drehbuchs, die Autor Ossip Brik Mitte der Dreißiger in die Schreibmaschine tippte, gescannt und eingeblendet – allein dafür brauchte er sechs Monate, drei weitere für den Bildschnitt am Computer und noch einmal drei für den Ton.

Tatsächlich, auch der Ton fehlt „Dochunda“ nicht – auch wenn, Puristen mögen hier mäkeln, Originalaufnahmen des Filmes nicht erhalten sind. Aber wenn womöglich Kuleschows Tonmann selber die Stimme eben jenes Muezzins aufgezeichnet hätte, die wir jetzt hören? Iswolow stieß beim Durchforsten des staatlichen Filmarchiv auf einen Dokumentarfilm, den Wladimir Jerofejew 1931 in Buchara gedreht hatte – an exakt den Schauplätzen, die nur fünf Jahre später für „Dochunda“ geplant waren.

„Ob Meisterwerk oder nicht: Ich will, dass ,Dochunda’ den Weg zurück ins Leben findet“, begründet Iswolow seine fast manische Puzzlearbeit. Vorangetrieben hat er sie unter widrigsten Bedingungen – und hat sich die Mittel bei Sponsoren förmlich zusammenbetteln müssen. Auch sein Kabuff im Filminstitut atmet wenig pittoreske Improvisationsnot: Aus dem Pseudo-Kronleuchter sind drei der fünf Glühbirnen herausgeschraubt.

Die Produktionsgeschichte von „Dochunda“, die immerhin in einige – heute verschollene – belichtete Filmrollen mündete, ist wild wie die damalige Zeit. Iswolows Recherchen zufolge dreht Regisseur Kuleschow 1936 zunächst im Moskauer Filmstudio. Dann rüstet sein Team für die Reise nach Tadschikistan, wo Teile der Naturaufnahmen gedreht werden sollen. Zur Abstimmung bei der Motivsuche schickt er das in Moskau produzierte Material voraus – so unchronologisch, wie Filme schon damals meist gedreht wurden. Doch vom Nutzen eines Schneideraums, in dem das Material erst in seine dramaturgische Abfolge gebracht wird, ist dem Direktor von Tajikfilm offenbar nichts bekannt. Der Apparatschik sichtet nur das Szenendurcheinander und telegrafiert nach Moskau, dieser Kuleschow dürfe nicht länger das Geld des Staates verjuxen.

Ergebnis der Farce: Kuleschow gelingt es nicht, den alsbald verfügten Drehstopp rückgängig zu machen. Die „Dochunda“-Filmrollen verrotten und werden nicht mal irgendwo gebunkert. Das erste sowjetische Spielfilmarchiv entsteht erst 1948 – und ist Aufbewahrungsort nur für fertiggestellte Werke.

Iswolows Nacherfindungsgeist aber stößt sich an derlei Grenzen nicht. Sogar Filmmusik gibt es in „Dochunda“, auch wenn sie – ausnahmsweise – nicht aus alten Dokumenten generiert wurde. Ein Freund Iswolows komponierte sie auf dem PC neu – nach Folklore aus der Region. Sogar mit personengebundenen Leitmotiven: Nervenzerrend gerät etwa die Szene, wo Gulnar an den Bey verheiratet werden soll und alles auf ihr dramatisch ausbleibendes Jawort wartet. Selbst für den Schluss, als die Tonkonserve mit dem archivierten Wochenschau-Material abbricht, hat der Tüftler eine Lösung gefunden: Bei der Massenszene, in der die Rotarmisten endlich Buchara stürmen, machen seine eigens eingeblendeten Regieanweisungen doch auch ordentlich Effekt: „Durchladen!“ – „Maschinengewehr!“ – „Hurra!“

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