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Ausgezeichnet. "Exemplary Behaviour" aus Litauen, eine Studie über Schuld und Sühne zweier Mörder, gewinnt die "Goldene Taube" 2019.

© Dok Leipzig 2019

Dok Leipzig 2019: Mit den Falschen fühlen

Nach dem Krach um "unkritische" Filme über Rechte: Das Filmfestival Dok Leipzig ringt mit der Wahrheit - erstmalig auch auf einem Symposium.

Was unterscheidet einen Dokumentarfilm von einem Spielfilm? Das ist in unübersichtlichen Zeiten, in denen sich ersterer ganz selbstverständlich auch fiktionaler Formen wie Animationen und Spielszenen bedient, nicht mehr so einfach zu unterscheiden. Und dann ist es wieder ganz leicht.

Im Abspann von Spielfilmen steht der Standardsatz „Bei der Herstellung des Films wurden keine Tiere gequält“. Im Dokumentarfilm „Space Dogs“ dagegen, der beim Sonntag endenden Festival Dok Leipzig zu den Publikumsrennern zählte, ist genau das zu sehen. Nur, dass hier ein Tier ein anderes quält.

Einer der Moskauer Straßenhunde, von denen die magische und bittere Saga handelt, die bis hinauf ins Weltall führt, beißt eine Katze tot. Die Kamera zeigt in einer quälend langen Sequenz, wie er das mit Lust am tödlichen Spiel anstellt. Zurück bleiben ein blutiges Fellbündel und die Gewissheit, wirkliches Sterben gesehen zu haben. Dieser Zuschauerglaube an die Authentizität des Dokumentarfilms macht ihn im digitalen Bilderrauschen der Fakenews-Welt offensichtlich wieder einordnungsbedürftig und angreifbar.
Ein Forum dafür hat es in Leipzig noch nie gegeben. In gut 60 Jahren nicht. Doch diesmal analysiert eine zweitägige Veranstaltung innerhalb des wichtigsten deutschen Dokumentarfilmfestivals Ästhetik und Strategien.

Das Symposium „Wem gehört die Wahrheit? – Der politische Gegner im Visier der Kamera“ spiegelt die gereizte und in Sachen Wirklichkeitswahrnehmung irritierte Stimmung. Es ist eine direkte Antwort auf Kontroversen der letzten beiden Jahre. 2017 und 2018 wurden die Festivalbeiträge „Montags in Dresden“ und „Lord of the Toys“ wegen ihrer als unkritisch eingestuften Schilderung rechter Milieus in Sachsen angefeindet.

Soll man Speer erschießen, statt ihn zu filmen?

Die Irritation über den Shitstorm, den speziell die „Goldene Taube“ für „Lord of the Toys“ vor einem Jahr auslöste, ist Programmchef Ralph Eue beim Eröffnungsvortrag im Leipziger Kupfersaal immer noch deutlich anzumerken. Ausführlich zitiert er Marcel Ophüls’ Essay „Soll man Speer erschießen, anstatt ihn zu filmen?“ und warnt davor, den Wirklichkeitsanspruch an Dokumentarfilme misszuverstehen. Wahrheit sei immer Konstruktion – immer verhandelbar, nie objektiv. Und die künstlerische Dokumentation, die er bewusst von der Welterklärungsattitüde journalistischer „Dokus“ abgrenzt, dürfe kein „nützlicher Meinungsbehälter“ sein, den man mal eben auf Übereinstimmungen mit den eigenen Anschauungen abklopfen könne.
Tamara Trampes Meisterwerk „Der schwarze Kasten“ von 1991 demonstriert, wie packend und universell gültig es im Dokumentarfilm gelingen kann, die vermeintlichen Gewissheiten eines Protagonisten mit Empathie zu erforschen und zugleich als Lebenslügen zu entlarven. Darin lässt die Regisseurin einen Stasi-Offizier und Hochschullehrer für Psychologie seine Motivation und Methoden erklären und beendet das tagelange Gespräch im offenen Dissenz.

Bei der Anschlussdiskussion sagt die selbst von der Stasi bedrängte, mittlerweile 77 Jahre alte Filmemacherin aus Berlin: „Meine damalige Naivität, zu denken, dass ich – nur, weil wir im selben Land gelebt haben – mit einem Geheimdienstler etwas klären könnte, amüsiert mich heute.“ Dabei ist ihr das Entscheidende gelungen, nämlich zu belegen, dass monströse Organisationen nicht von Monstern, sondern von Menschen getragen werden. Im Fall des Stasi-Offiziers von einem manipulativen Softie, dem man vor der Kamera beim Anwenden seiner Methoden zusehen kann und ihm trotzdem streckenweise auf den Leim geht, ihn sympathisch zu finden.

Drahtig. Szene aus Maria Arlamovskys Dokumentarfilm „Robolove“.
Drahtig. Szene aus Maria Arlamovskys Dokumentarfilm „Robolove“.

© Nikolaus Geyrhalter Produktion/Dok Leipzig 2019

Diese Beklommenheit über das „Mitfühlen mit den Falschen“ – seien es Sozialisten oder Rechte – triggerte vor „Lord of the Toys“ und dem Pegida-Film „Montags in Dresden“ schon der 1992 in Halle-Neustadt gedrehte Neonazi-Film „Stau – Jetzt geht’s los“ von Thomas Heise.

Wie sehr sich seither durch Internet und soziale Medien nicht nur der Zuschauerblick, sondern auch die Wahrnehmung der Protagonisten verändert hat, beschreibt der Regisseur anschließend so: „Damals ging es den Jugendlichen darum, dass ich ein ehrliches Bild von ihnen liefere. Heute wollen sie das Bild liefern, dass sie von sich selbst entworfen haben.“ Da ist was dran, auch wenn es längst nicht gleichermaßen für jede Heldin und jeden Helden der im internationalen Wettbewerb geschilderten Lebenswelten gilt. Ma Xiang aus dem starken chinesischen Beitrag „Noodle Kid“ beispielsweise, der mit 14 Jahren Dorf und Koranschule verlassen muss, um als Nudelkoch die Schulden der Familie abzuarbeiten, ist so wenig Herr seines Schicksals wie seines Abbilds. Das gilt auch für die armenischen Frauen aus „Village of Women“, die die Landwirtschaft schmeißen, während die Männer als Arbeitsmigranten nach Russland ziehen. Oder für zwei im Knast mit Überwachungskameras observierte Mörder in „Exemplary Behaviour“. Die barmherzige Reflexion über Schuld und Sühne der Litauer Audrius Mickevicius und Nerijus Milerius gewann die „Goldene Taube“.

Wer die Macht hat, hat die Wahrheit

Dagegen kontrolliert Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsgipfels in Davos in „Das Forum“ in jeder Sekunde sein seriöses Erscheinungsbild. Genauso wie der japanische Robotik-Guru Hiroshi Ishiguro in „Robolove“, ein gruseliger Einblick in die Entwicklungslabore sozialer Androiden, die mitunter Fabriken für Hightech-Sexpuppen gleichen. Wer die Macht hat, dem gehört die Wahrheit. Das ist ein auf dem Podium in Bezug auf Staat und Wirtschaft häufig wiederholter Satz. Ihn belegt auch die Londoner Kunst- und Rechercheagentur „Forensic Architecture“ durch ihre mit 3D-Simulationen arbeitende filmische Rekonstruktion eines NSU-Mordes.

Die Macht über eines der größten europäischen Dokfilmfestivals aber geht 2020 von Leena Pasanen auf Christoph Terhechte über. Prompt ist der langjährige Leiter des Berlinale-Forums Leipzig auch unter den Wahrheitssuchern im Kupfersaal anzutreffen. Ob er schon erste programmatische Ideen hat? Terhechte lacht. „Nein, nur eine pragmatische: bitte die Untertitel höher setzen.“
[Der Festivalbesuch wurde von Dok Leipzig unterstützt.]

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