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Bedrohtes Familienglück: Nazif (Nazif Mujic, links) sorgt sich um seine Frau Senada (Senada Alimanovic), sie muss dringend operiert werden, aber der Familie fehlt das Geld.

© Drei Freunde Filmverleih

Dokudrama über eine Roma-Familie: Ach, Europa!

Ein Held aus dem wirklichen Leben, die wahre Geschichte einer bosnischen Roma-Familie: „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ gewann auf der Berlinale den Großen Preis der Jury. Ein großartiges Dokudrama von Danis Tanovic, in dem die Protagonisten sich selbst spielen.

Wir brauchen Holz, sagt die Frau, und der Mann zieht los, draußen herrscht eisiger Winter. Er fällt einen kleinen Baum, zerlegt ihn mit Säge und Axt, spaltet die Äste zu Scheiten, eine Plackerei für ein bisschen Wärme in der Einzimmerwohnung. Nazif verrichtet die Arbeit schweigend, routiniert, so ist das Leben, er ist Schrottsammler von Beruf. Im Kino hat man das noch nicht gesehen: Wie zwei, drei Männer ein altes Auto in Einzelteile zerlegen, es dauert Stunden, ein Knochenjob mit schwerem Hammer und bloßen Händen, für ein karges Entgelt beim Schrotthändler. Oder wie Nazif später alleine loszieht, um auf der Müllhalde rostige Metallteile zusammenzuklauben – und sie dann auf einem klapprigen Kinderwagengestell über gefrorene Wege zerrt.

„Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ gewinnt seine Stärke aus diesen wie beiläufig mit Digikamera dokumentierten Szenen aus dem Dorf Poljice unweit der bosnischen Stadt Tuzla. Dem Drama, das sich aus diesem Alltag entfaltet, verleihen sie seine Wahrheit. Regisseur Danis Tanovic führt die Armut seiner Protagonisten nicht vor, schon gar nicht mit sozialmoralischer Verve, er bezeugt sie bloß, ruhig, unaufgeregt – und deshalb umso eindringlicher.

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Vom Drama der Roma-Familie erfuhr er aus einer Zeitungsnotiz. „Diesen Film habe ich aus Wut gemacht“, sagt der Filmemacher Danis Tanovic, der 2001 für sein Antikriegsdrama „No Man’s Land“ den Auslands-Oscar gewann. Nazif Mujic und seine Frau Senada Alimanovic müssen mit den kleinen Töchtern Sandra und Semsa in die städtische Klinik fahren. Senada hat rasende Bauchschmerzen, sie ist zum dritten Mal schwanger. Das Auto springt kaum an in der Kälte, das Eis muss von den Scheiben gekratzt werden, es muss schnell gehen, das Kind im Mutterleib ist tot, es droht eine Blutvergiftung. Aber Senada ist nicht krankenversichert, sie soll viel Geld zahlen für die Operation, umgerechnet rund 500 Euro. Ausschabung nur gegen Vorkasse. „Ich würde ja helfen“, sagt der Arzt, als sie es später noch einmal versuchen, „aber Befehl ist Befehl.“ Und verweist auf die Klinikleitung.

Nazif bettelt und fleht, vergeblich. Er wendet sich an eine Hilfsorganisation, laut Gesetz müsste der lebensbedrohlich Erkrankten auch ohne Bezahlung geholfen werden, wieder vergeblich. Am Ende hilft nur eine Notlüge – und die Fahrt in ein anderes Krankenhaus, in einem entfernteren Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Dann wird der Strom in Poljice abgeschaltet, die Glühbirne muss an die Autobatterie angeschlossen, die Stromrechnung bezahlt werden. Auch Holz fehlt schon wieder ... Es ist das reine Glück, wenn der Mann draußen in der Kälte einfach nur Holz holen muss und es sonst an nichts fehlt.

Rekonstruierte Realität nennt der bosnische Regisseur sein Cinéma verité. „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ entstand ohne Drehbuch, nach Mujiks Erzählungen, in nur neun Tagen: ein 75-Minuten-Film für ein Minibudget von 17 000 Euro, einer der besten europäischen Filme des Jahres. Senada, Nazif, die Töchter, die Nachbarn, sie spielen sich selbst – und das Happy End war im Februar auch im wirklichen Leben zu besichtigen. Zur Weltpremiere auf der Berlinale reiste die gesamte Familie an, Senada Alimanovic hielt ihr drittes Kind im Arm, sie ist wieder gesund. Tanovic gewann den Großen Preis der Jury, der Laienschauspieler Mujic den Darstellerpreis. Die Courage, mit der er seiner Frau das Leben rettete, übertraf die Künste seiner Profikollegen.

Nazifs kurzes, trockenes Husten. Die zappeligen Töchter im Klinikflur. Die Lethargie der korpulenten Senada nach den vergeblichen Klinikbesuchen. Die stille Beharrlichkeit ihres Mannes, seine ungelenken Bittgesuche an die Ärzte. Die Selbstverständlichkeit, mit der Verwandte und Freunde im Dorf helfen, soweit sie das können. Waschen von Hand, Teigkneten in der Plastikschüssel, die Zeichentrickserie im flimmernden Fernseher, die Sandra so liebt – 75 Minuten Alltag in Zeiten der Diskriminierung: Auch das ist Europa, nur wenige Stunden von Berlin entfernt.

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