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Dokumentarfilm: Du Opfer!

Aysun Bademsoys Dokumentarfilm „Ehre“ hinterfragt eine gefährliche Passion, bei Jugendlichen in Neukölln und Kreuzberg genauso wie bei der Bundeswehr.

Von Caroline Fetscher

Sie heißen Abdullah, Christian, Kevin, Osman, Ivan, Ali, Max und Michael, die meisten von ihnen leben in den Berliner Stadtteilen Neukölln, Wedding, Kreuzberg, Alt-Reinickendorf. Ihre Glücklosigkeit in Schule und Ausbildung auf der einen Seite scheint mit einem Überschuss an Ehrgefühl auf der anderen zu korrespondieren. Was ist das eigentlich, deine Ehre, fragt Regisseurin Aysun Bademsoy ihre Protagonisten, männliche Jugendliche, die wegen ihrer heißen Passion für die Ehre bereit sind, zuzuschlagen, Haftstrafen zu riskieren, Vergeltung zu üben.

Bademsoy lässt die Jugendlichen selber sprechen. Es sind „Bindestrich-Bürger“, deutsch-türkische, deutsch-russische, deutsch-arabische, aber auch deutschdeutsche Jungen. Gedreht wurde beim Mitternachtssport im Kiez, beim Antigewalttraining mit Sozialarbeitern und Polizisten, bei Haftaufenthalten und auf der Straße, bei der Bundeswehr und einer Einrichtung der „interkulturellen Jugendhilfe für straffällig gewordene Jugendliche“.

„Was man halt Ehre nennt“ – das hat in den Augen der Jungen viele Facetten. Ihre Versuche, die Ehre zu definieren, sind anrührend bis erschreckend. Wenn jemand „Hurensohn“ sagt oder „du Opfer“ oder einen schief anguckt? „Isch geb’ ihm eine!“, denn „isch lass mir das nisch gefallen“? Oft geht es um die Jungfräulichkeit einer unverheirateten Verwandten, meistens der Schwester. Einer bekennt offen, er habe früher gedacht: „Ich bin ein Junge, ich darf alles, meine Schwester nichts.“ Was tun, wenn die Schwester vor der Ehe Sex hat oder sie abends ausgehen will? Ob ältere oder jüngere Brüder, sie sind bereit, beherzt für den Anstand der Schwester auf diese oder deren Freunde einzuprügeln – ihre Unberührtheit „ist meine Ehre“. Erst recht, wenn sie mit einem falschen Typ ankommen würde, einem Schläger, Kriminellen, der nichts taugt.

Der Antigewalttrainer fragt nach: „Du meinst also, wenn sie mit so einem ankommt, wie du einer bist?“ Einen Lidschlag lang ist die Verblüffung des Jungen zu merken. In solchen Momenten blitzt die kognitive Dissonanz der Überzeugungen auf, mit denen ihre Familien sie gefüttert haben. Erhellend sind die Erklärungen des Psychologen über die existenzielle Bedrohung, die eine verlorene Jungfräulichkeit in manchem Herkunftsland der Jungen für die ganze Familie bedeutet hat: Ausgrenzung, sozialer Tod, wirtschaftlicher Ruin. Dass es hier und heute so nicht ist, sollen Training und Therapie, Sanktionen, Aufklärung und Diskussionen den Jungen nahebringen.

Aysun Bademsoy, Jahrgang 1960, wurde mit Filmen über fünf in Deutschland lebende Türkinnen bekannt, die große Leidenschaft für den Fußball hegen: „Mädchen am Ball“ (1995), „Nach dem Spiel“ (1997) und „Ich gehe jetzt rein“ (2008) fügen sich zur Langzeitdokumentation migrantischer Lebenswege. In „Ehre“ kommentiert die Regisseurin nicht aus dem Off, auch die Anwälte und Sozialarbeiter nicht. Indirekt kommentiert werden die Szenen mit Bildern trister Wohnblocks, grauer Straßen – und den kleinen Mahnmalen für ermordete, junge Frauen, die dem Begriff solcher „Ehre“ zum Opfer fielen. Ein reifer, kraftvoller Film, der nicht denunziert, sondern beschreibt. Gleichwohl schützt er keine falsche Neutralität vor: „Ehre“ ist Hatun Sürücü gewidmet, die im Februar 2005 in Berlin von ihren Brüdern mit Kopfschüssen „hingerichtet“ wurde, weil sie nicht „traditionell“ leben wollte. Caroline Fetscher

fsk am Oranienplatz, am 1.6. um 18 Uhr mit anschließendem Publikumsgespräch

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