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Pariser Schülerinnen und Schüler sprechen in "Premières solitudes" über ihre Ängste.

© S. Dulac Productions

Dokus auf der Berlinale: Schluss mit der Monokultur

Wie geht es dem Dokumentarfilm, den die Berlinale erneut mit dem Glashütte-Dokumentarfilm-Preis ehrt? Eine Erkundung an drei Beispielen.

Dieses Jahr wurden – aus unerfindlichem Grund – die nützlichen tabellarischen Filmübersichten gestrichen. Der Verlust ist nicht nur für altgediente Berlinale-Besucher ein schwerer Schlag bei der Organisation des eigenen Festivalprogramms und der schnellen Orientierung. Eine Kompensation bietet da ein Neuzuwachs in der Berlinale-Booklets-Familie: „Focus on Docs“ heißt das Heftchen. Es entstand im Zuge des 2017 eingeführten sektionsübergreifenden Glashütte-Dokumentarfilm-Preises und geht weit über Inhaltsangaben der 18 für den Preis (50 000 Euro) nominierten Filme hinaus. Mit Informationen quer durch alle Festivalsektionen ist die neue Broschüre ein nützlicher Festival-Lotse für Freunde des Dokumentarfilms.

Oder besser: für Freunde „dokumentarischen Formen“, wie es etwas umständlich, aber treffender im deutschen Untertitel der Veröffentlichung heißt. Denn der Begriff des Dokumentarfilms ist nicht nur durch Jahrzehnte praktizierter Filmgeschichte beschwert und von normativen Debatten belastet. Er suggeriert auch fälschlicherweise eine Homogenität des Genres. Eine Lesart, die kreative Spielräume einengt und mittlerweile leider das Dokumentarische in TV und Kino prägt. Was darüber hinausgeht, ist im regulären Kino selten zu sehen. Doch auf der Berlinale lässt es sich in aller Vielfalt quer durch die Sektionen studieren.

Hier reicht das thematische und formale Spektrum vom journalistischen Agitprop-Stück für die (selbstverständlich) gute Sache wie Werner Bootes „The Green Lie“ (Kulinarisches Kino) über Markus Imhoofs gelungene persönlich-analytische Flüchtlingsstudie „Eldorado“ im Wettbewerb bis zum klug eingefädelten und sensiblen Porträt einer religiösen Sekte („Ohne diese Welt“ von Nora Fingscheidt in der Perspektive Deutsches Kino).

Signal für komplett andere Pädagogik

Doch man muss die Lage nicht verzerren, um den Sektionen Panorama und Forum die größte Leidenschaft für das Potential eines Kinos jenseits des Spielfilms zu bescheinigen. Auch, weil sowohl Erika und Ulrich Gregor als auch Manfred Salzgeber in ihren Programmen schon vor Jahrzehnten starke dokumentarische Schwerpunkte bildeten, als solche anderswo noch als Schmuddelware galten: Im Panorama mit Fokus auf queeren und sozialen Themen, im Forum mit einem Faible für ästhetische Selbstreflexion. Hier sollen noch einmal drei Arbeiten ins Licht gesetzt werden.

Ein besonders schön gelungenes Beispiel für die Befruchtung eines dokumentarischen Ansatzes durch kluge Inszenierung ist Claire Simons „Premières solitudes“, der sich eigentlich ungeplant aus einem Projektauftrag an einer Schule in Paris entwickelte. Dort sollte Simon mit Schülern und Schülerinnen einen Kurzspielfilm entwickeln. Für das Drehbuch machte sie Interviews mit ihnen zum biografischen Setting. Doch die dort erzählten und zumeist auch recht schwierigen Lebensgeschichten sprachen die Filmemacherin so an, dass sie den ursprünglichen Plan kippte und gemeinsam mit den Jugendlichen ein neues Konzept entwickelte.

Dabei befragen sich die im Schulalltag sonst isolierten jungen Frauen (zwei Männer sind auch dabei) vor der Kamera in Zweier- oder Dreiergruppen gegenseitig zu Themen, über die sie sonst nicht miteinander reden, wie zum Beispiel Ängste und Lebensträume oder die familiäre Situation zu Hause. Und dabei gehen sie trotz der oft schwierigen Verhältnisse mit solcher Neugier und Zärtlichkeit miteinander um, dass der Film eigentlich nur als Signal für eine komplett andere Pädagogik verstanden werden kann.

Dezentralisierung und Dekolonisierung

Im Panorama gibt es mit „Ex-Shaman“ ein gelungenes Beispiel für eine ähnliche kollektive Fabrikation eines Films, der aber statt in ein facettenreiches Mosaik vieler kleiner Geschichten wie bei Simon in einer großen Erzählung aufgeht. Die führt in ein Dorf des Volk der Paiter Surui im brasilianischen Regenwald, wo ein ehemaliger Schamane von evangelikalen Christen verdrängt wurde und nun auch zunehmend andere – an schnellem materiellen Eigennutz orientierte – Eindringlinge wie Diamantensucher oder Baumfäller das Leben verändern. Seine Intensität gewinnt der Film in Regie von Luiz Bolognesi durch die Tatsache, dass die Dorfbewohner sich selbst und ihr eigenes Leben spielen, das so in seiner extremen gefährdeten Eigenständigkeit noch einmal eine starke Leinwandpräsenz bekommt.

Ein Plädoyer gegen die Monokultur der Lebensweisen, das in einem anderen Versuch der Dezentralisierung und Dekolonisierung dominanter Perspektiven einen starken Begleiter bekommt. Jean-Pierre Bekolos ambitionierter Film „Afrique – La pensée en mouvement Part 1“ mag auf den ersten Blick wie eine spröde Ansammlung von Talking Heads erscheinen, setzt aber, wie im Titel versprochen, bald enorme gedankliche Bewegungsenergie frei. Das Material stammt von einer Konferenz, die Ende 2016 in Dakar die bedeutendsten Intellektuellen des frankophonen Afrika zum Gedankenaustausch versammelte; Regisseur Bekolo hat es zu einem eindrucksvollen Manifest montiert.

Die selbstbewusste, in vielen Varianten geäußerte Botschaft: Die Welt und das Nachdenken über sie lässt sich von Afrika aus neu und vielstimmig organisieren. Stärker kann ein filmisches Statement kaum sein.

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