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Yoga machen und Bücher lesen. Eine Szene aus „The Blue Flower of Novalis“.

© Carneiro Verde / Berlinale

Dokus im Berlinale-Forum: Männer führen Selbstgespräche

Zwei radikale Dokumentarporträts im Forum der Berlinale: „Just Don’t Think I’ll Scream“ und „The Blue Flower of Novalis“.

Zwei Filme verschreiben sich im Forum radikal der Innenperspektive ihrer Protagonisten. Sein Innerstes nach außen kehren, je ehrlicher, desto besser: Nicht nur die therapeutische Gesellschaft, auch das dokumentarische Porträt gibt sich mit Äußerlichkeiten nicht zufrieden, trotzt den Menschen emotionale Wahrheiten ab, provoziert Geständnisse.

In „Just Don’t Think I’ll Scream“ gewährt Regisseur Frank Beauvais Einblick in eine tiefe Lebenskrise. Nach einer Trennung in der elsässischen Provinz zurückgelassen, verbringt der Mittvierziger die Tage fast ausschließlich mit Filmen. Die Bildspur seines filmischen Essays besteht aus kurzen Ausschnitten der gesehenen Filme, während Beauvais im Voice-over ein endloses Selbstgespräch führt, Pläne schmiedet und wieder verwirft, Schrecken aus den Nachrichten verarbeitet, am eigenen Leben verzweifelt.

Die Filmausschnitte illustrieren zwar häufig das Gesagte, doch Bewusstseinsstrom und Bilderstrom fließen nicht zusammen. Die Filme bieten keinen Ausweg, spiegeln immer wieder die eigene Weltflucht. Die sorgfältige Aufzeichnung einer Midlife-Crisis neigt zur eitlen Selbstdarstellung. In den besten Momenten entsteht in der Dissonanz zwischen den abgehackten Filmschnipseln und den grübelnden Kreisbewegungen eine Art Kartografie des depressiven Bewusstseins.

Das Innerste ausleuchten

Auch der brasilianische Film „The Blue Flower of Novalis“ kreist um ein Selbst, allerdings weniger als Bewusstsein denn als Körper. In der ersten Einstellung liegt Marcelo Diorio in einer akrobatischen Yogapose auf dem Boden und liest aus einem Gedichtband, die Kamera der Filmemacher Gustavo Vinagre und Rodrigo Carneiro fokussiert erst mal seinen Anus. Vinagre und Carneiro haben ihren Film aus Marcelos Alltag gewoben, seinen Ritualen, seinen homosexuellen Beziehungen, seinen Erinnerungen und Fantasien. Marcelo ist HIV-positiv, in einer der eindrücklichsten Szenen lässt er den Gedanken an sich heran, er sei der schwule Teufel geworden, den seine homophobe Familie einst an die Wand gemalt hat.

Doch der Film fasziniert nicht nur durch diese Figur, sondern vor allem, weil er die Porträtform infrage stellt. Wenn Marcelo mitten in einer Aufnahme Regieanweisungen gibt, verschwimmt die Grenze zwischen Geständnis und Performance. In der letzten Einstellung ist Marcelos Hintern mithilfe eines Analdehners weit geöffnet – und das Versprechen des intimen dokumentarischen Porträts, das Innerste auszuleuchten, wird zum Endpunkt geführt.

„Just Don’t Think I’ll Scream“: 15.2., 22 Uhr (Arsenal 1); „The Blue Flower of Novalis“: 16.2., 11.30 Uhr (Cinestar 8)

Till Kadritzke

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