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Doris Lessing erhält Literatur-Nobelpreis: Die sanfte Linke

Mit 87 Jahren erhält die britische Schriftstellerin Doris Lessing den Literatur-Nobelpreis

Von Gregor Dotzauer

Die drei prägenden Einflüsse ihres Lebens, so erklärte sie erst vor wenigen Jahren, seien ihre Kindheit in Zentralafrika, die bitteren Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und das Versinken in dicken Romanen gewesen – vor allem von Tolstoi und Dostojewski.

Von allen dreien ist Doris Lessing als Schriftstellerin, wenn man nicht ihre autobiografischen Schriften zu Rate zieht, heute um Lichtjahre entfernt. Rhodesien, wo ihre Eltern glücklos eine Maisfarm betrieben, hat sie vor über einem halben Jahrhundert, 1949, in Richtung England verlassen. Der Krieg, dessen Verheerungen sie als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers nachträglich zu spüren bekam, ist nicht nur durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs überlagert – mit der Wirklichkeit unserer gegenwärtigen Kriege hat er kaum noch etwas zu tun. Und was ihre literarische Prägung betrifft, hat sie zwar weder Tolstois moralische Bewusstheit noch Dostojewskis metaphysischen Kampfgeist hinter sich gelassen, spätestens mit dem Erscheinen des „Goldenen Notizbuchs“ (The Golden Notebook, 1962), ihres berühmtesten Romans, aber alles, was ihr zuvor an realistischem Erzählen am Herzen lag.

Wie man es betrachtet: Doris Lessing ist die Stimme eines untergegangenen Zeitalters – im guten wie im schlechten Sinne. Auch sie selbst hält sich, mit der ihr eigenen Selbstironie, gern für einen Dinosaurier. Ihre Ausflüge in die Science-Fiction-Literatur, die sie vor allem mit der Pentalogie „Canopus in Argos“ Ende der siebziger Jahre unternahm, illustrieren das sinnfälliger als ihr Debütroman „Afrikanische Tragödie“ (The Grass is Singing, 1950): die Rekonstruktion eines sich lange anbahnenden Mordes, den Moses, ein schwarzer Hausdiener, an seiner weißen Farmherrin Mary begeht.

Denn nichts altert bekanntlich so schnell wie die Zukunft. Lessings Sorge um eine sich apokalyptisch verdüsternde Welt nimmt zwar ökologische Visionen auf, die damals noch prophetisch wirkten. Das kosmische Trallala zwischen C. G. Jungs Psychoanalyse und sufistischen Ideen, denen sie unter dem Einfluss von Idies Shah verfiel, überdeckt mit seinen heterogenen Stilebenen vom Tagebuch bis zum historiografischen Bericht nur, welch manichäisches Weltbild hier in schlichten Licht-Schatten-Metaphern entfaltet wird. Dagegen sind Lessings Erkundungen kolonialer Herrschaftsverhältnisse in ihrer Unverstelltheit wesentlich weniger anachronistisch.

In den siebziger Jahren wäre Doris Lessings Auszeichnung mit dem Nobelpreis eine mutige Entscheidung gewesen. Im Jahr 2007 hat sie etwas Anachronistisches – was bei aller möglichen Kritik an Lessings Moralismus einzig und allein aufs Konto des Stockholmer Nobelpreis-Komitees geht. Ihre Bedeutung für die Literatur des 20. Jahrhunderts ist unbestritten. Man kann aber auch nicht behaupten, dass sie, gemessen an den zahllosen internationalen Preisen, die sie erhalten hat, nicht erkannt worden wäre.

Dass Doris Lessing mit bald 88 Jahren noch immer reist und bei öffentlichen Auftritten – etwa 2006 beim Berliner Literaturfestival – eine seltene Würde ausstrahlt, ist ein Glücksfall für sie und ihre Leser, die seit kurzem auch ihren jüngsten Roman „Die Kluft“ (The Cleft) lesen können: eine Mischung aus historischem Roman aus römischen Zeiten, mythologischem Gedankengut und, wiederum, Science-Fiction. „Die Kluft“ handelt vom Geschlecht der zwischen Walross und Frau changierenden Spalten, deren friedliches Matriarchat durch die Entdeckung der Sexualität und viele männliche Nachkommen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Eine Variation ihres feministischen Grundthemas, das sie seit dem „Goldenen Notizbuch“ zu einer Heroin der Frauenbewegung hat werden lassen, wobei sie selbst den Begriff Feminismus immer misstrauisch beäugt hat.

In der Tat war und ist sie vor allem eine grundpragmatische, selbstbewusste Frau; von bestechender Intelligenz und Bildung, darüber hinaus mit einer beneidenswerten britischen Schlagfertigkeit gesegnet. Doch eine gewisse Tendenz zum lebenden Monument kann man ihr, der Frau mit dem ewigen Dutt im Haar, nicht absprechen. Sie ist ein hinreißendes Monument ihrer selbst, aber eben ein Monument.

Am 22. Oktober 1919 im persischen Kermanshah geboren, kam sie als Fünfjährige nach Rhodesien. Bis zum Alter von 14 Jahren besuchte sie ein katholisches Konvent in der Hauptstadt Salisbury und arbeitete anschließend unter anderem als Kindermädchen. In der Langeweile jener Jahre entwickelte sie ihre Lust am Schreiben: eine Lust, die zum Bedürfnis wurde und schließlich, wie sie gestand, zur neurotisch ausufernden Fixierung. Diese Neurose hat mit über 40 Büchern in verschiedenen Gattungen ein unüberschaubares Werk hervorgebracht, dessen Fülle schon Lessing-Fans kaum gewachsen sein dürften. Horace Engdahls, des Ständigen Sekretärs der Schwedischen Akademie Behauptung, dass alle Mitglieder des Nobelpreis-Komitees das Gesamtwerk eines geeigneten Kandidaten – und das mehrmals – lesen würden, harrt jedenfalls bei nächster Gelegenheit einer dezenten Überprüfung.

Lessings afrikanische Jahre schärften ihr Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten der weißen Herrschaft über die schwarze Bevölkerung. Mitte zwanzig, nachdem sie sich von ihrem ersten Ehemann Frank Charles Wisdom hatte scheiden lassen und ihre beiden Kinder beim Vater blieben, erwachte ihr sozialistisches Gewissen. Sie wurde Mitglied der Southern Rhodesian Labour Party und schloss sich für eine Weile einer marxistischen Gruppe an. Auch ihre zweite, 1945 geschlossene Ehe mit Gottfried Lessing, dem späteren DDR-Botschafter in Uganda, ging in die Brüche, und sie zog kurz vor der Veröffentlichung ihres Debütromans mit ihrem Sohn Peter nach England, wo sie in rascher Folge weitere Bücher veröffentlichte. Ihre sozialistische Jugend betrachtet sie heute als natürliche Entwicklungsstufe – und hat mehrfach versucht, die Versuchungen ideologischen Denkens zu analysieren – vielleicht am radikalsten in „Die gute Terroristin“ (The Good Terrorist, 1985).

Man kann Doris Lessing mit guten Gründen selbst als ein Kind jener kriegerischen Gewalt betrachten, was ihrer fünfteiligen Romanserie „Children of Violence“ (1952–1969) den Titel gab. Ihr Selbstverständnis hat sie aber nirgends umfassender untersucht als im „Goldenen Notizbuch“ – einem Roman, mit dem sie 1978, 16 Jahre nach dem englischen Original, auch in Deutschland ihren Durchbruch feierte. In der aus Südafrika stammenden Schriftstellerin Anna Wulf, der Hauptfigur, spiegeln sich bis hinein in biografisch-familiäre Parallelen entscheidende Züge ihrer Persönlichkeit – vom Flirt mit dem Kommunismus bis zur Erfahrung des Verlassenwerdens. Man mag es als Zeichen für die späte Auszeichnung mit dem Nobelpreis sehen, dass dieses komplexe, mit einem Roman im Roman spielende Werk außerhalb ihrer englischen Heimat auch erst verspätet gewürdigt wurde.

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