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Kultur: Dornröschen, aus schwerem Schlaf geweckt

Vom Punk zum Kiez-Bingo: Das Berliner SO 36 wird immer wieder neu entdeckt. Seit 25 Jahren – und jetzt wieder.

Gezählt wird ihr Alter erst, seit einer sie eroberte, der sie schon bald wieder verließ. Dass sie vorher da war, wer fragt danach. Sie ist ein schmuckloses Ding. Ein Bierlokal, ein Kino und ein Penny-Markt. Dann ist sie leer, eine Halle. Nach dem Eroberer kamen weitere Männer und gingen wieder und benutzten sie, aber es war nicht zu ihrem Schlechtesten. Sie wurde berühmt mit ihnen. Als Heimstatt Berliner Avantgarde, als Mythos. Dies ist ihre Geschichte, und sie beginnt Ende der 70er Jahre.

Es ist der Künstler Martin Kippenberger, einer von den Jungen Wilden, der in der Nacht zum 13. August 1978 das Gitter zur Seite schiebt und eine rauschende Party feiert. Martin Kippenberger, damals 25 Jahre alt. So alt wie sie heute. Behaupten die von damals. Sie zählt anders. Für sich selbst existiert sie länger, seit 1861. Aber das sieht Martin nicht. Er denkt, er hat eine Jungfrau vor sich. Ein Tausendsassa ist er, Maler und Inszenierer, und reich soll er auch sein. Er nennt sie „SO 36“, so wie der Postzustellbezirk ihrer Straße. Berlin-Süd-Ost. Oranienstraße 190 in Kreuzberg. Sie hätte lieber einen schönen Namen gehabt, aber daraus wird nichts.

Er hängt ihr blaue Neonlichter um als Schmuck. Die machen ein hartes, ärmliches Licht. Er durchmisst mit großen Schritten ihren Raum und hört, wie seine Freunde über seine neueste Eroberung staunend sagen, sie sei „das von der Kommunikation her kälteste“, was sie jemals gesehen haben.

Martin, ihr neuer Freund. Er bringt das Leben zurück. Er lädt Leute ein aus dem Rest von Berlin, aus Westdeutschland, da wo er herkommt, Dortmund, hat er mal gesagt. Sogar aus London und New York kommen die Gäste – und auch Stars. Schon gleich bei der Eröffnungsparty: Elf Punkbands spielen an zwei Tagen, es gibt Buttercremetorte und als die Bands gerade aufgehört haben, da rauscht ein cremefarbener Mercedes heran und wer steigt aus? David Bowie steigt aus. Und hinter ihm so ein Dürrer, den keiner erkennt. David Bowie lebt gerade in Berlin. Aber in Schöneberg. Er trägt eine getönte Brille und einen weißen Anzug. Eigentlich sieht er aus wie ein Zahnpastavertreter. Aber noch eigentlicher sieht einer, der David Bowie ist, immer gut aus. Der Dürre ist Iggy Pop.

Dialog mit der Jugend

Es ist eine wilde Zeit. Das ganze Geld, das verpulvert wird. Die Partys, die Vernissagen, die Kunst. Aber auch: der Ärger mit den Punkern. Die sich erst gefreut haben über die neue Halle und dann sauer werden wegen der Preise: massig Eintritt und teures Bier. In der Gegend kostet die Dose eine Mark. Martin will drei. Einmal haut ihm eine Punkerin eine Flasche auf den Kopf, weil sie bezahlt hat für eine Ausstellung und dann hängt da nur ein einziges Bild. Da klafft dem Martin der Kopf auf und er muss ins Krankenhaus, wo sie ihn verbinden. Davon macht jemand ein Foto, und das malt er ab. Er nennt es: „Dialog mit der Jugend“. Ein anderes Mal stürmt ein „Kommando gegen Konsumterror“ die Halle, haut alles kurz und klein und klaut die Kasse. 2000 Mark sind drin. Danach werden Rocker an die Tür gestellt zum Aufpassen. Das nervt. Auch Martin und seine Freunde. Dieses Rechnen in Pfennigbeträgen, der Stress auf der Straße. Wo sie doch „Adam and the Ants“ nach Kreuzberg holen oder „Dr. Feelgood“. Bald reicht’s ihnen.

Am 30. Juni 1979 ist Schluss. Bei der Abschlussfeier gibt es Sekt. Eintritt 40 Mark.

Die Einsamkeit kommt zurück. Tage, an denen sie auf ihre Straße guckt. Alles Gründerzeitbauten. Aber die anderen sind nicht verschlossen. Kneipen gibt’s in der Nähe. Viele Menschen sind da, sie sind jung, tragen abgerissene Hosen und Jacken und haben die Haare gefärbt. Sie wohnen in Wohnwagen oder leeren Häusern, in die sie einfach eingezogen sind. Viele sind Türken. Und einer von ihnen wird ihr neuer Begleiter. Hilal Kurutan, ein älterer, freundlicher Mann. Wahrscheinlich Familienvater, wahrscheinlich einer, der sein Land verlassen hat, um in Deutschland Geld zu verdienen. Er nennt sie „Merhaba SO 36“. Merhaba heißt Guten Tag.

Vier Jahre bleibt Hilal bei ihr. Im Kiez heißt es nur, dass es jetzt „die Türken“ sind, die das SO machen. Denn irgendwie sind es mehr als nur Hilal. Jedenfalls wird sie billig vermietet. Das zählt in der armen Gegend. Es gibt abwechselnd türkische Hochzeiten, dann wird sie hübsch geschmückt. Oder es gibt Punkkonzerte, dann achtet kein Mensch auf sie, aber die Musik, die ist okay. Meistens jedenfalls. Da ist eine Band, deren Mitglieder dauernd grinsen: „Soilent Grün“. Die werden später als „Die Ärzte“ berühmt. „U. K. Subs“ spielen oder „Palais Schaumburg“. Aber manchmal spinnen auch alle. Die oben auf der Bühne und die davor, die sich das antun.

„Jeder hatte die Chance, im SO 36 auf die Bühne zu kommen“, sagt Wolfgang Müller. „Deshalb war das Publikum auch umso gnadenloser, wenn etwas nicht gefiel.“ Im Bierdosenhagel findet er die Schlagzeugerin für seine Band „Die tödliche Doris“. Sie steht 1981 beim alljährlichen 1.-Mai-Konzert auf der Bühne. Als Feuerschluckerin. Aus schlechten Boxen dröhnt Musik. Vor ihr stampfen Punker im Pogo über den harten Boden, die 30 mal neun Meter große Halle ist voll. Scheinwerfer hängen über der Bühne und von ungezählten Köpfen fließt Schweiß. Die Luft ist verraucht und stickig. Es gibt Dosenbier und wenn das halb ausgetrunken ist und warm, fliegt die Dose auf die Bühne. Richtung Käthe Kruse, die ihr Feuer schluckt, und sich nicht beeindrucken lässt, was Wolfgang Müller so begeistert, dass er sie zur Schlagzeugerin ernennt, obwohl sie nie Schlagzeug gespielt hatte. „Sie musste nun fleißig üben“, sagt Müller. Das tut sie und ein halbes Jahr später tritt „Die Tödliche Doris“ bei der Kunstausstellung „Biennale“ in Paris auf. Das SO 36 habe Aura, sagt Müller.

Eine andere Band, die auftritt und berühmt wird, heißt „Einstürzende Neubauten“. Die sind weit vorn in dieser Euphorie des Kunstschaffens, von der die Leute immer reden. Der Sänger Blixa Bargeld schreibt das Geleitwort zu dem Buch „Geniale Dilletanten“, das Müller 1982 herausgibt. Darin steht: „Schrei dich zu Tode. Das ist mehr als richtig.“

Doch die Umstände machen ihr zu schaffen. Im Winter ist es zu kalt, im Sommer zu heiß, und sie weiß, dass sie die Nachbarn nervt, wenn es laut aus ihrem Innern dröhnt. Aber sie kann es nicht ändern. Ihre Haut ist zu dünn. Manchmal sieht sie im Nachbarhaus eine alte Frau, die in den Garten späht. Die hat Angst um ihren Rosengarten. Den hat sie da angelegt, wo jetzt die Punker immer langtrampeln, wenn sie durch die Hintergärten zu ihr kommen und sich durch die Notausgänge reinmogeln. Weil sie den Eintritt nicht zahlen wollen. Die alte Frau tut ihr Leid. Rosen sind etwas Wunderschönes.

1983 kommt der Zusammenbruch. Hilal ist weg. Die Bauaufsicht sagt, die Halle ist Schrott und schließt die Tür wieder zu. Eine kurze Zeit kann sie das diesmal sogar genießen. Es reicht ihr, was draußen los ist, vor der Tür. Da tobt der Kampf um Kreuzberg. Es gibt die Bösen, der Senat und gierige Spekulanten, die wollen alles weghaben in der Gegend. Rio Reiser und seine Band „Ton Steine Scherben“ singen ihnen ein Lied:

„Doch die Leute im besetzten Haus riefen ,Ihr kriegt uns hier nicht raus’ / Das ist unser Haus / Schmeißt doch erst mal Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.“

Die gehören zu den Bösen, die neue Häuser bauen wollten und sogar eine Autobahn war mal geplant mitten durch Kreuzberg. Der Oranienplatz sollte ein gigantischer Ab- und Zufahrtsring werden. Aber ein anderer dieser modernen Albträume ist wahr geworden: In ihrem Rücken türmt sich schon das „Neue Kreuzberger Zentrum“. Ein elfgeschossiges Monstrum, fünf Aufgänge, vier Postadressen. Wenn das die Zukunft sein sollte – gute Nacht. Hausbesetzer, Punker, Künstler, Türken, die ganzen Minderheiten, die in Kreuzberg wohnen, wehren sich gegen die Pläne, und die Polizei kommt mit Wasserwerfern angefahren.

Sie stinkt so sehr

Die Halle fängt an zu stinken, weil keiner mehr die Bierlachen aufgewischt hat. Doch da draußen kämpft einer um sie. Ernst Handl, auch ein Künstler, diesmal aus Wien. Er wohnt bis dahin im „Kuckuck“, dem Kreuzberger Kunst- und Kulturzentrum. Er kennt sie schon, er war mal bei einem dieser Punkkonzerte. Da hat sie nicht auf ihn geachtet, aber er hat in ihr eine neue Welt entdeckt. Und er hat sich verliebt.

Er besorgt sich den Schlüssel, und als er die Tür aufstößt, da verschlägt es ihm den Atem. So sehr stinkt sie. Er hält sich die Nase zu und öffnet die Notausgänge zum Lüften. In dem bisschen Licht, das nun eindringt, sieht sie, was aus ihr geworden ist: ein modrige, heruntergekommene, hässliche und gebrechliche alte Schlampe. „Es war, als hätte man sie aus einem langen ekligen schweren Schlaf geweckt“, sagt Ernst. „Sie war ein ekliges Dornröschen.“ Seine Liebe schmälert das nicht. Mit Feuereifer beginnt er, sie gesund zu pflegen. Einen Spezialisten hat er auch dabei. Theodor Winters, ein Architekt, der damals für den Senat Vermittler im Kiez gespielt hat. Ein Guter auch. Einer, der sich einsetzt.

Theodor und Ernst. Die Retter. Ernst stemmt ihr mit der Eisenstange die löchrigen Kleider vom Leib, und prügelt sich fast dafür, dass die durch das Schönste vom Schönen ersetzt werden, und der Theo kümmert sich darum, dass das vom Senat bezahlt wird. Ernst will Parkett, die anderen, die dabei mitreden dürfen – und das sind fast alle im Kiez – finden, Linoleum reicht. Ernst bleibt stur. Parkett und nichts anderes. Die anderen sagen: Parkett, das tanzen wir nur kaputt mit unseren Springerstiefeln. Darauf drücken wir unsere Zigaretten aus. Das passt nicht in den Kiez. Ernst ist das egal. Eichenparkett, dunkel gebeizt. Und nichts weniger.

Sie ist erfreut, charmiert und blüht auf. Es gibt Kunstprojekte, Tanzprojekte, Malprojekte, Fotoprojekte, Musikprojekte. Bis nach New York, sagt Ernst, spricht es sich rum: In Kreuzberg, da geht wieder was. Und gleichzeitig ist Kreuzberg die Bronx von Berlin. Sich selbst überlassen: Motorradcliquen, Türkengangs, Punker regeln, was Sache ist. Es ist eine aggressive Zeit. An die Wände des „Kuckuck“ sprüht jemand: „Es gibt keine Kunst, es gibt nur Ärger.“ Seit 1987 gibt es jedes Jahre im Mai Krawalle in Kreuzberg. Trotzdem. Ernst hat Pläne: Hochkultur und Subkultur will er zusammenbringen. Philharmonie und Punk. Ernst reibt sich auf. „Man darf da nicht mit Egoismen rangehen“, sagt er.

Ernst hat einen Verein gegründet, nur um sie in Form zu bringen. Ungefähr zehn Leute sind drin. Für Kreuzberger Verhältnisse „eine schlagkräftige Truppe“. In besetzten Häusern reden zwischen 40 und 50 Leute mit, da dauern Debatten wochenlang. Den Verein nennt er Sub Opus. Werk von unten. Keine hochfliegenden Träume mehr. Sehen, wie Kunst entsteht. Ernst sagt, Kunst besteht darin, einen Kunstentstehungsraum zu schaffen. Und das ist sie. Sie sind ein gutes Team.

Um sie zu retten, nehmen die vom Verein Millionen vom Staat. Mit dem sie, die Hausbesetzer, die Alternativen, doch gar nicht so viel zu tun haben wollen. Einmal erfährt Ernst, dass es Abrisspläne gibt. „Da haben wir den ganzen Kiez mobilisiert“, sagt er. Sie fahren zum Zoo-Palast, wo es eine Kinopremiere geben soll. Und gerade als die feinen Gäste über den roten Teppich gehen, da zünden sie einen Mercedes am Rinnstein an. Sie hatten das als Kunstaktion genehmigen lassen. Am nächsten Tag ist Ernst noch ins Rathaus gegangen und hat dem Bausenator gedroht, dass es bei Abriss einen Aufstand geben werde.

Er hat sich aufgerieben. Nun geht er

Im Herbst 1990 sind die Narben verheilt. Wiederauferstehung wird gefeiert. Ein lustiges Fest. Ernst und seine Freunde haben aus Pappmaschee ein großes Hinterteil gebastelt. Durch das Loch guckt Ernst, als er seine Begrüßungsrede hält, in der das Wort Arsch oft vorkommt. Weil man wegen des ganzen Geldes, das da investiert wurde, nun zum kapitalistischen Unternehmertum gezwungen ist. Und weil man sich den Arsch aufgerissen hat, und weil einem Geld in den Arsch geblasen wurde. Da haben alle gelacht. Außer vielleicht die Leute vom Amt.

Bald darauf merkt Ernst aber, dass er selbst auch im Arsch ist. Er kann nicht mehr. Er hat sich aufgerieben für sie. Nun muss er gehen, sonst geht er kaputt. Er zieht sich zurück. „Das hat schon ein bisschen geschmerzt“, sagt er. Wie ein Vater, hat er sich gefühlt, der merkt, dass das Kind ihn vergisst.

Aber so ist es. Als er weg ist, stehen die Nächsten Schlange, die mit ihr tändeln wollen. Schön, wie sie jetzt ist. Sie geht mit den anderen, schließlich heißen die immer noch Sub Opus. Aber ihr Preis steigt. Statt 5000 Mark kostet sie nun 9000 Euro im Monat. Und alles wird professioneller. Es gibt Arbeitsgruppen für Deko, Licht, Sound, Auf- und Umbau. Mischpulte, Boxen, Scheinwerfer werden gekauft. Es gibt Verträge für die, die für sie arbeiten, und sogar einen Ausbildungsplatz. Dafür lässt sie sich spaßige Verkleidungen nähen. Als Winterparadies oder als Bauernlandschaft.

Es sind die Schwulen und Lesben, die jetzt zu ihr kommen und feiern. Schon die erste „Queer-Party“ schlägt ein wie eine Bombe. Dazu kommen regelmäßige Veranstaltungen: Hungrige Herzen zum Kennenlernen, Electric Ballroom für Techno, Kiez-Bingo, immer wieder Konzerte und der Salon Oriental für türkische und arabische Homosexuelle. Da hängt ein Baldachin im Raum und Showmasterin Fatma räkelt sich auf einem Teppich und sagt zur Begrüßung „Liebe Schwule, liebe Lesben, lieber Rest“. Nach dem Salon gibt es seit 1998 Tanz: Gayhane. Männer in Frauengewändern, mit langen Wimpern, und glitzernden Fingernägeln. Auch die Heteros dürfen rein, aber sie müssen sich benehmen. Anfangs seien türkische Jungs aufgetaucht, die hätten Lesben betatscht oder Schwule beleidigt. Da flogen sie raus. Eine „schwierige Türpolitik“ war das, sagt Fatma.

2003 noch ein Zusammenbruch. Das Parkett ist morsch. Es hat lange gehalten, dafür, dass es so geschunden wurde. Und es wird ersetzt. Ohne weitere Diskussion. Obwohl es 50000 Euro kosten soll, die Sub Opus nicht hat. Wieder wird ihr das alte Kleid vom Leib gerissen. Und für die vielen Freunde, die sie inzwischen hat, wird es in Fetzen verkauft. Am 29. August soll sie fertig sein. Dann wird wieder mal Eröffnung gefeiert. Mit einer Monster-Karaokeparty. Wo man Texte von anderen singt. Das neue Parkett ist hell diesmal, es glänzt wie in einer Tanzschule.

Ernst hat von der Wiedereröffnungsparty gehört. Er hat an dem Tag einen Termin im Ausland. Sonst wäre er vielleicht hingegangen, um zu gucken, wie sich seine Freundin von damals geschlagen hat. Wie sie selbstbewusst ohne ihn zurechtkommt. Einen Fetzen von ihrem alten Kleid will er nicht kaufen. „Ich bin kein Souvenirtyp“, sagt er.

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