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Kultur: Dostojewskis deutsche Reisen: Sein Beitrag für das Ost-West-Unverständnis ist kaum zu überschätzen

"Die hiesigen Öfen sind ohne Absperrschieber. Man braucht unsinnig viel Heizmaterial, aber es wird nicht warm.

"Die hiesigen Öfen sind ohne Absperrschieber. Man braucht unsinnig viel Heizmaterial, aber es wird nicht warm. Die Deutschen wollen lieber erfrieren, als von den Russen die Öfen zu übernehmen. Russland wird hier gehasst." So schrieb Dostojewski aus Dresden an seine Nichte. Und aus Bad Ems an seine Frau: " ... sie haben eine schreckliche Aussprache und stellen sich beim Hören stockdumm an. Ein Deutscher sagte mir unterwegs: upa, upa. Was ist das upa? Fragte ich ihn, und schließlich stellte sich heraus, dass upa Oper heißen soll." Karla Hielschers Buch, das den Schriftsteller bei seinen Deutschlandaufenthalten darstellt, kann für humorlose deutsche Leser zur unangenehmen Lektüre werden. Doch war Dostojewski keinesfalls ein spezifischer Deutschlandhasser: Privat mochte er eigentlich niemanden. Die Russen vielleicht, rein theoretisch. Wichtig an diesem Buch sind aber weniger Dostojewskis Xenophobie, seine Kleinlichkeit, seine unglaublichen Schlussfolgerungen über verschiedene Völker (obwohl es gut tut zu wissen, dass die größten Genies in ihrer Weltanschauung dem Metzger nebenan näher stehen können als unserem Grünen-Abgeordneten). Wichtig ist vielmehr, dass die Persönlichkeit eines der größten Romanciers deutlich wird, was helfen könnte, die Patina veralteter Klischees von seinen Werken abzuwischen.

Karla Hielscher hat Briefe, Tagebücher-Auszüge, Memoiren und Werke Dostojewskis und anderer ihm nahe stehender Menschen nach den deutschen Städten angeordnet, in denen der Schriftsteller weilte: Wiesbaden, Bad Homburg, Baden-Baden, Dresden, Bad Ems. Die Verfasserin kommentiert die abgedruckten Dokumente und rekonstruiert den Hintergrund. Als leidenschaftlicher Roulette-Süchtiger nimmt Dostojewski seine Reisestationen im Spielrausch wahr, ohne sich für Sehenswürdigkeiten oder das Leben um ihn herum zu interessieren. Das Land ist wie durch verrusste Gläser gesehen. Dafür liest man seine Briefe mit genauso viel Spannung wie seine Romane. Dieselben Schwankungen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, dieselben Abgründe der Seele, derselbe suggestive Tonfall. Wer sich an den Roman "Der Spieler" erinnert, erkennt die Gestalt des Protagonisten. Das fehlende seelische Gleichgewicht hat der Schriftsteller mit fast allen seinen Helden gemein. Die Distanz, die man üblicherweise zwischen dem Autor und seinen Helden annimmt, schrumpft.

Als der berühmte russische Philosoph und Literaturwissenschaftler Michail Bachtin die Polyphonie Dostojewskis entdeckte und beschrieb, meinte er eben diese Gleichberechtigung der Stimmen der Helden und des Autors. Kaum ein anderer Schriftsteller kommt seinen Helden so nah, kaum ein anderer kann die feinsten Nuancen des inneren Erlebens so glaubwürdig wiedergeben. Bei der Beschreibung der Eindrücke seiner ersten Reise in den Westen offenbart sich ein nervöser, unter Komplexen leidender Mensch. So glaubt er die Gedanken des Mannes lesen zu können, der die Gebühr für das Betreten der neuen Kölner Brücke erhebt: "Da siehst du unsere Brücke, du armseliger Russe - du bist ein Wurm im Vergleich zu unserer Brücke." Viele Figuren aus seinen Büchern könnten eine ähnliche Szene aufführen. Was aber im Roman eine Vertiefung, eine neue Dimension schafft, wirkt als direkte Äußerung des realen Menschen ganz anders.

Der deutsche Leser sieht in diesem Buch ein wunderliches, expressives, verzerrtes Bild von Deutschland. Besaß Dostojewski ein anderes Augenpaar für sein eigenes Land? Als junger Mann wurde er wegen der Mitgliedschaft in einer revolutionären Gruppe zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, seine Gesundheit wurde dadurch untergraben; nach der Verbannung verbrachte er viel Zeit im Ausland. Wenn man berücksichtigt, dass sein Russland nicht der realistischen Beobachtung, sondern einer inneren Schau entstammt, wird klar, dass alles Faktische, Praktische, Geschichtliche, Psychologische, Soziale, welches die Tradition seinen Romanen über Russland, die russischen Menschen, "die russische Seele" entnommen hat, nur eingeschränkt gelten kann.

In Russland wie im Westen wird oft unterschätzt, in welch hohem Maße unsere Vorstellung über Dostojewskis Heimat und ihre Menschen durch seine Literatur beeinflusst ist. Man kann ihn geradezu als den Erfinder der "russischen Seele", dieses geheimnisvollen "Etwas", bezeichnen, an das nicht nur die Westeuropäer, sondern auch die meisten Russen glauben. Sein Beitrag für das gegenseitige Unverständnis zwischen West und Ost ist kaum zu überschätzen. Viele Vorurteile der Westeuropäer gegenüber den Russen und vice versa sind dank der Überzeugungskraft dieses großen Schriftstellers entstanden und haben sich mehr als ein Jahrhundert gehalten.

In diesem Buch, das den Schriftsteller so objektiv und nüchtern vorführt, sind auch andere Stimmen zu hören: Aufzeichnungen von Dostojewskis Geliebter Apollinaria Suslova, die den Prototypen für die schrullenhafte, eigensinnige Polina aus dem "Spieler" abgab; Tagebücher und Memoiren seiner Frau Anna Grigorjewna, die ihren Gatten immer mit Liebe und Bewunderung betrachtet, egal, was er sagt oder anstellt; ein Brief des Schriftstellers Iwan Turgenjew, der im Gegensatz zu Dostojewski westlich orientiert ist und sich gegen die Anschuldigung wehrt, er sei ein Russlandfeind. Die Dokumente sowie die äußerst interessanten und seltenen Abbildungen lassen die Atmosphäre der russischen Gesellschaft und der deutschen Badeorte des 19. Jahrhunderts lebendig werden und verhelfen dazu, die wunderschöne, aber keinesfalls realistische Welt in Dostojewskis Werken etwas adäquater wahrzunehmen.Karla Hielscher: Dostojewski in Deutschland. Insel Verlag 1999. 290 S., 19,80 DM.

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