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Kultur: Drei Choreographien von Merce Cunningham im Berliner Schiller-Theater versprechen den perfekten Perspektivwechsel

Klassiker, auch die modernen, sind nicht nur Wegmarken, an denen sich eine zurückgelegte Strecke abmessen lässt. Bleibt ihre Kreativität erhalten, strahlt ihre Arbeit auf die Gegenwart aus, setzt Maßstäbe.

Klassiker, auch die modernen, sind nicht nur Wegmarken, an denen sich eine zurückgelegte Strecke abmessen lässt. Bleibt ihre Kreativität erhalten, strahlt ihre Arbeit auf die Gegenwart aus, setzt Maßstäbe.

80 Jahre alt wurde Merce Cunningham in diesem Jahr. Bald 50 Jahre umfaßt inzwischen sein choreograpisches Schaffen. Dabei gehört er zu den wenigen, die nicht nur einen eigenen Stil, sondern eine eigene tänzerische Sprache gefunden haben. Und kaum hat sich seine Neugier über die Jahre verschlossen. Im Gegenteil, seit Beginn der 90er Jahre experimentiert er mit computeranimierten Möglichkeiten der Choreographie. Am PC lassen sich nicht nur vorhandene Arbeiten speichern, sondern auch neue entwickeln. Ein unendliches Feld von Variationen eröffnet sich, aus dem der Begründer der Postmoderne seine Stücke komponiert.

Beim Gastspiel der Cunningham Company im Schiller-Theater kann der Zuschauer die Entwicklung der letzten Dekade in Drei-Jahres-Schritten nachvollziehen. 1993 entstand das Stück mit dem vokallosen Titel "CRWDSPR" zu John Kings "Blues 99". Eine Klanginstallation, die Töne wie durch einen Schredder jagt, definiert den Raum. Im Gegensatz dazu plaziert Cunningham seine Tänzer in zarten pastellfarbenen Kostümen auf leerer Bühne vor einem changierenden Lichthintergrund. Zwischen Blau und Grün wechselnd, öffnet sich der Raum in die Tiefe oder drückt die Aktionen optisch an die Rampe. Immer wieder arbeitet Cunningham mit Ruhepunkten. Erst ganz allmählich verdichtet sich die Choreograpie und wird auf ihrem Höhepunkt abrupt abgeschnitten. "CRWDSPCR" ist eine schartige Konfrontation, als öffne sich ein Zeitfenster und gewähre nur für einen Augenblick Einsicht in ein schnarrendes kinetisches Uhrwerk. Ein Ausdruck urbanen Lebens.

Ähnlich unvermittelt endet auch das 1996 entstandene "Rondo" zur Musik von John Cage. Doch ganz anders wirkt hier die Atmosphäre. Wie ein traditionelles Scherzo erscheint das Stück, dessen choreographische Reihenfolge und Besetzung jedes Mal durch Münzwurf festgelegt wird. In ihren popbunten Badeanzügen treten die 15 Tänzer als heitere Strandgesellschaft auf. Sie posieren scheinbar beim Sonnenbad, treffen sich in kurzen Duetten oder Gruppen. So konkret jedoch die Situation erscheint, so sehr übersetzt sie Cunningham in eine abstrakte Sprache, die aus dem Motionen stets die Bewegungsgesetze zu destillieren versucht. Im zweiten Teil reißt das anfänglich schummrige Licht auf, die Kostüme wechseln zu strengem Schwarzweiß. In einem furiosen Finale bündelt das Stück seine Themen und bricht mitten im Lauf der Ereignisse ab. Die Bewegung, suggeriert das, ist endlos. Was wir sehen, nur ein kleiner Ausschnitt aus einem pulsierenden Kosmos.

Am deutlichsten zeigt sich Cunninghams Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Computeranimation in dem 1999 entstandenen "Biped", das die Company als europäische Erstaufführung präsentiert. Hier überläßt sich der Choreograph ganz einem nicht enden wollenden Kontinuum. Zu den sanft pulsierenden Klängen von Gavin Bryars begegnen sich virtuelle Tänzer, auf einen Gazevorhang projiziert, und reale Akteure. Vertikale und horizontale Linien suggerieren Tiefe oder Flächigkeit. Doch die 15 Tänzer auf der Bühne in ihren silbrigen Trikots stehen keineswegs in Konkurrenz zu ihren graphischen Pendants auf der Leinwand. Eher ermöglichen die Strich- oder Punktfiguren noch einmal einen ganz anderen Blick. In Vogel- oder Froschperspektive gesehen, verkörpern sie nicht nur die abstrakten Gesetzmäßigkeiten, sondern lösen den ganzen Raum auf in eine poetische Beweglichkeit. Eine neue Dimension eröffnet sich, in der die Zeit sich aufzulösen scheint.

Selten hat man ein Cunningham-Stück von solcher Leichtigkeit und Einfachheit gesehen. In großer Gelassenheit spielt der Choreograph mit Tempi und Dynamiken, webt immer neue Konstellationen. Schnelle Schrittkombinationen wechseln mit gehaltenen schwierigen Balancen. Ermutigt von den unbeschränkten Möglichkeiten der Animation fordert Cunningham seine präzisen Tänzer bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und riskiert dabei auch gelegentliche Unsicherheiten. "Biped" erscheint als ein ebenso humorvoller wie tiefreichender Tribut an das Leben. Einmal mehr verdeutlichen die graphischen Projektionen, worauf es diesem Choreographen ankommt. Die konkreten Erscheinungen sind ihm bloß Anlass, um dahinter die raumplastischen Gesetze in einem freien Spiel der Kräfte zu entfalten. "Biped" kann man kaum anders als ein Meisterwerk nennen. Seine 50 Minuten Dauer vergehen wie im Flug und gestatten einen Blick in die Zukunft des Tanzes.Noch heute, 20 Uhr, Schiller-Theater

Norbert Servos

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