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Kultur: Drift ins Himmlische

Die Londoner Tate Modern feiert Gerhard Richter in einer großen Retrospektive

Vielleicht ähnelt das System Museum dem System Ikea an keinem anderen Ort so sehr wie in der Londoner Tate Modern. Das matte Parkett, das Licht, die elegant geschwungenen Bänke – alles ist so eingerichtet, dass man am liebsten einziehen möchte. Und wenn man sich mit den Besuchermengen durch die Gerhard- Richter-Retrospektive geschoben hat, verschwimmt im Tate-Café der Blick vor den Tate-Muffins und dem Tate-Shortbread ähnlich wie die graue Farbe in Richters frühen Gemälden aus der bundesdeutschen Konsumkultur.

Die Ausstellung, mit der London, nachdem Richard Hamilton und Lucian Freud gestorben sind, den „größten lebenden Maler“ („Sunday Times“) feiert, arbeitet der Möbelhaus-Assoziation nicht unbedingt entgegen. Die Fensterskulpturen, der „Spiegel“ von 1981 und die Metallkugel, die neben „Betty“ am Boden liegt – manches Objekt wirkt so banal wie ursprünglich wohl vom Künstler intendiert. Die sich vom Betrachter abwendende Betty taucht übrigens im Shop wieder auf, als Print fürs Wohnzimmer.

Die Pointe: Richters erste nennenswerte Ausstellung fand in einem Möbelhaus statt; in Düsseldorf, wo er 1963 mit Sigmar Polke und Konrad Lueg den „Kapitalistischen Realismus“ ausrief. Und welches Bild eröffnet die Londoner Schau als Nummer 1 des Werkverzeichnisses? Ein Tisch! Warenhaus und modernes Museum wurzeln beide in den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, beide sind Manufakturen des Begehrens. Im ehemaligen Heizkraftwerk der Tate Modern kommen Sakrales und Profanes zur Deckung – anders als in Richters Werk, das diesen Gegensatz als unauflösbare Spannung produktiv hält.

Da hängt eine „Kerze“ von 1982, genau so eine, wie sie 2008 für 10 Millionen Euro über den Tisch ging und Richter zum teuersten lebenden deutschen Maler machte. Am Freitag steht während der Frieze-Messe bei Christie’s erneut eine „Kerze“ für bis zu 10 Millionen Euro zum Verkauf. „Absurd wie die Bankenkrise“, findet das der Schöpfer selbst, „unverständlich, albern, unangenehm“. Über 25 Kerzenbilder hat Richter zwischen 1982 und 1983 gemalt. Fünfundzwanzig! Die Wiederholung wirkt wie eine rituelle Abwehrhandlung gegen die suggestive Kraft des Kitsches – und hatte doch die umgekehrte Wirkung, dass Richter „Kontemplation, Erinnerung, Stille und Tod“ verspürte. Wie Pygmalion sich in sein Werk verliebt, verfällt der Maler dem Sujet. Das Bild erweist sich als stärker. Der Künstler verführt sich selbst.

Richter galt bis in die Achtziger als kühl, seine konzeptuellen Gemälde schienen vom allseits beschworenen Ende der Malerei zu handeln. Aber diese Schau beweist das Gegenteil: Richter liebt die Malerei. Als Maler ist er auch interessanter denn als Bildhauer; sein skulpturales Werk ist vorrangig als Abstandsgewinnung zu verstehen, als Vermessung und Objektivierung seines Leinwandschaffens.

Die Ausstellung „Gerhard Richter: Panorama“ wurde gemeinsam mit der Neuen Nationalgalerie und dem Centre Pompidou erarbeitet, wohin sie anschließend wandert, mit leicht veränderten Schwerpunkten. Die Version von Tate-Kurator Mark Godfrey zeichnet sich vor allem durch die wissenschaftliche Klarheit aus, mit der sie Richters Schaffen mit allen Brüchen und Widersprüchen chronologisch erschließt. Wobei sie sich vielleicht etwas zu gehorsam vor dem Werk verneigt und hinter dessen experimentellem Charakter zurückbleibt.

Wie im Zerrspiegel reflektiert es die Strömungen der Nachkriegskunst: Abstrakter Expressionismus in den gestischen Pinselstrichen, die das realistische Tischbild durchkreuzen; Pop-Art in den abgemalten Magazinmotiven; Farbfeldmalerei in den grauen Monochromen; Konzeptkunst in den zufallsgenerierten Farbtafeln; Junge Wilde in den grellen Abstrakten der frühen Achtziger Jahre. Zu jeder Schule findet Richter einen überlegenen Kommentar und verstellt mit seiner Kombination aus unabhängigem Spiel und handwerklicher Meisterschaft die Flucht in historische Finalitäten, vor allem sich selbst.

Als andere sich Video und Installation zuwandten, malte Richter Seestücke und nutzte die metaphysische Aura des Tafelbildes weit subtiler als Andy Warhol. Wenn in „Seestück (See-See)“ von 1970 anstelle des Himmels ein zweites Meer auf dem Kopf steht, ist das eine Persiflage auf die Natursehnsucht der Romantik – zugleich aber ein erhabenes Bild im romantischen Sinne. Im Zickzack zwischen Kommentar und Hingabe, zwischen Zweifel und Affirmation, Realismus und Abstraktion, hat Richter sich eine Freiheit des „Und dennoch“ erarbeitet, die ihn prinzipiell alles malen lässt, Blumenbouqets etwa oder Totenköpfe.

So ist nach den Luftbildern wiederaufgebauter Städte, die im dicken Pinselstrich erneut zu Trümmerfeldern werden, und nach den grauen Monochromen, die auch noch den kleinsten Farbschattenwurf thematisieren, der Weg wieder frei für das Himmlische. Entwaffnend schweben die blaugrau schimmernden Leinwände des Triptychons „Wolke“ von 1970, als wären die hermetischen Flächen des Colourfield Painting nur Jalousien gewesen, die jemand zu öffnen vergaß. In der Nähe hängt eine virtuose Kopie von Tizians „Verkündigung“, angefertigt nach einer schlichten Postkarte. Richter meinte lapidar, er habe sich einen Tizian fürs Wohnzimmer gewünscht. Es ist wie bei der Kerze: Er startet als Zyniker und driftet in die Herrlichkeit. Später führt das zu berückenden Landschaftsbildern.

Im umfangreichen Katalog berichtet Christine Mehring von Briefen, die ein isolierter Richter nach der Übersiedlung 1961 an Freund Helmut Heinze in Dresden schrieb. Bei ihm fand der Künstler nach der Wende seine Linoldruckserie „Elbe“ von 1957 wieder. „So einfach kann es nicht sein“ – mit dem Gedanken habe er als Student die Drucke abgetan. Nachdem sie 2010 in einer von Heinze kuratierten Ausstellung bei Dresden gezeigt wurden, schließen sie in der Tate nun den Bogen zu Richters jüngerem abstrakten Werk.

Die Erfahrung von Exterritorialität, die Richter mit Marcel Duchamp teilte, mag eine Grunderfahrung sein. Immerhin tat Richter alles, um sie zu wahren. Er verließ ein graues Land, in dem er bunte Staatsgemälde gefertigt hatte, ging in ein etwas bunteres Land und malte graue Bilder, „Tante Marianne“ zum Beispiel, jenes ikonische Selbstporträt als Baby im Schoß der Tante, die dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer fiel. Ein gespenstisches Ineinander aus Ferne und Dringlichkeit, wie auch im Stammheim-Zyklus „18. Oktober 1977“ , in dem Richter mit den Mitteln der Massenmedien das Historiengemälde neu belebte.

Ulrike Meinhof wird da von Richter zu einer Allegorie der Jugend verjüngt – und erscheint als „Tote“ wieder wie ein aufgebahrter Christuskopf; ein sakrales Vanitasmotiv mit barocker Kraft. Vielleicht ist es da am Ende nur eine notwendige Geste ironischer Brechung, dass Richters „48 Portraits“ von Geistesgrößen und sein 20 Meter langes Gemälde eines vergrößerten Pinselstrichs an den Wänden des Tate-Cafés wie Einrichtungsvorschläge in einem Möbelhaus wirken.

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