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Kultur: Du bist der Mann meines Lebens

Véronique Olmi gehört zu den Stars der französischen Theaterautoren. Heute liest sie in Berlin aus ihrem zweiten Roman „Nummer sechs“

Das Meer ist eine feste Größe im Kosmos der französischen Autorin Véronique Olmi, die 1962 in Nizza geboren wurde. Es verspricht Erlösung von den schlimmsten aller Schmerzen: von der Familie, die ihre Kinder verschlingt wie der furchtbare Gott Saturn. Unausweichlich sind die Verbrechen, die in der fatalen Intimität der Familie begangen werden. Wenn das Subjekt des Kindes schon beinahe ausgelöscht ist, wird das Meer zur Hoffnung. Einmal aufgenommen werden, umfasst werden vom Wasser und darin zu Hause sein.

Auf den ersten Seiten ihres neuem Romans „Nummer sechs“ (Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 100 Seiten, 14,90 €) schildert die erwachsene Ich-Erzählerin sich selbst als suizidales Kind. „Ich bin rasch vorwärts gegangen, den Blick immer geradeaus. Sehr rasch war ich mit dem Kleid unter Wasser. Ich hatte noch immer keine Angst.“ Es ist derselbe verknappte Ton wie in Olmis bestürzendem Romandebut „Meeresrand“, in dem eine Mutter aus Liebe ihre beiden Kinder ermordet, nicht ohne ihnen zuvor das Meer gezeigt zu haben. Dieses Mal aber gibt es Überlebende – der Vater holt das Kind aus dem Meer: „Du hast meinen blauen Hut auf der leeren Wasseroberfläche schwimmen sehen.“ Es ist der erste und letzte Liebesbeweis des Vaters an seine Tochter.

Véronique Olmi gehört zu den meistgespielten Gegenwarts-Dramatikerinnen des französischen Theaters. Ihre Stücke sezieren die Familie wie man Präparate im Mikroskop untersucht – in hauchfeiner Schnittführung. Eine Mutter lässt sie sagen: „Wir sind Brutbäuche, mehr nicht, danach entgleitet uns alles, und sehr bald wird uns mitgeteilt, dass wir aus dem Rennen sind“, eine andere mahnt: „Schaff dir niemals Kinder an“, ein Säugling sei „eine fleischfressende Pflanze“.

Olmi ist keine prätentiöse Ketzerin, noch reproduziert sie Plattitüden aus dem therapeutischen Vorzimmer. Olmi fügt den Familienflüchtern und -hassern, die um so abhängiger sind, eine neue radikale Tonart hinzu – eine dezidiert weibliche. Selbstbehauptung stößt hier auf andere, oft weich gepolsterte Widerstände. Sie zu überwinden bedarf es großer Kräfte – Véronique Olmis Heldin aus „Nummer sechs“ hat sie nicht. Die namenlose Sekretärin einer Kette für Billigkleidung ist eine ewige Tochter. Sechstes Kind einer katholischen Arztfamilie, die nach den alten Gesetzen des Patriarchats in einem schon erodierten Frankreich lebt.

Bei den Delbasts herrscht Ordnung, wer gegen sie verstößt, wird aus dem Verband ausgeschlossen. Der Vater ist eine doppelte Respektsperson: Als Arzt und als Weltkriegsveteran. Aber hinter soldatischer Selbstbeherrschung verbirgt sich ein Gezeichneter: Fieberträume und Migräne plagen den Mann, der im Ersten Weltkrieg seinen sterbenden Bruder vom Schlachtfeld trug. Die kleine Tochter wird Zeugin der nächtlichen Heimsuchungen, die zu den gehüteten Tabus der Familie gehören. Ihre Mitwisserschaft macht sie noch mehr zur Außenseiterin, als sie es ohnehin ist, als letztes, nicht mehr erwünschtes Kind alternder Eltern, weit entfernt von ihren zahlreichen Geschwistern. Sie bleibt isoliert, tagelang allein mit dem armen spanischen Kindermädchen, ausgeschlossen von der Liebe, die ihre Eltern miteinander zelebrieren. Echte und erfundene Krankheiten rühren weder das väterliche Herz noch dessen Ehrgeiz als Arzt: Er lässt die Tochter von einem Kollegen behandeln.

In fataler Selbstbestrafung führt ihm die heranwachsende Tochter das eigene Versagen vor – kein Mann, aber ein Kind, dann der inferiore Dienstleistungsjob. Die Tochter ist abgestiegen aus dem Olymp der Geachteten, ihr Dasein marginal – bis sie den hundertjährigen, hinfälligen Vater zu sich holt und ihm mit unbarmherziger Fürsorglichkeit die unerwiderte Liebe entgegenwirft. Doch das Du, das im kargen Monolog Olmis angesprochen wird, antwortet nicht. Es schweigt unter der Folter. Fast triumphierend sagt die Tochter am Ende: „Ich werde nicht hineinspringen, um dich zu retten“ und sie hofft, dass das Meer alles aufnimmt, was ihr eigenes Leben ausgesogen hat: „dich und dein Jahrhundert“.

Wie nebenbei erzählt Olmi in „Nummer sechs“ die Mythen und Traumata der Nationalkonservativen in der französischen Großväter-Generation, der heimlichen Pétain-Anhänger und offenen Kolonialisten. Die Stimme seiner Tochter, die sich über diesen Vater erhebt, ist so verarmt wie ihre Seele, ihre Zärtlichkeit ist grausam. Olmis Prosa hat hier nicht jene Unterströmungen wie in „Meeresrand“ und auch nicht denselben Sog. Zu viel weiß die Hauptfigur hier über sich selbst, wie eine Sekretärin, die ihr psychologisches Grundwissen aus Ratgebern holt. Dennoch bleibt Olmis besondere Tonart: die Ökonomie, mit der sie das Höllenszenario scheinbarer Harmonie erschafft.

Véronique Olmi liest heute abend um 20 Uhr im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23. Karten unter Tel.: 887 28 60 .

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