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Kultur: Du bist des Todes

Von Rüdiger Schaper Kurz vor Mitternacht. Vollmond.

Von Rüdiger Schaper

Kurz vor Mitternacht. Vollmond. Die Digitaluhr im Zug zeigt das Datum an: 06. 02. 2022. Merkwürdig: Sollten seit dem Morgen, als wir am Hotel in ein Taxi gestiegen sind, zwanzig Jahre vergangen sein? So unwahrscheinlich ist das nicht bei diesem Festival des globalen Seins und Scheins: Über 150 Auftritte von rund 50 Ensembles, verteilt über vier Städte und Dutzende von Schauspielhäusern, Hallen und anderen Lokalitäten, die das Theater kurzfristig erobert. Matthias Lilienthal, früher Chefdramaturg der Berliner Volksbühne, sagt, er schlafe jede Nacht nur drei Stunden. Er ist nicht von dieser Welt. Er leitet das Theater der Welt 2002 in Bonn, Duisburg, Düsseldorf und Köln.

Zum ersten Mal findet dieses riesige Fest des Internationalen Theaterinstituts in einem Städteverbund statt. Vor drei Jahren war Berlin der Schauplatz, und 2005 wird es wohl Stuttgart werden. Und geht man nicht zwanzig Jahre vor, wie die Zeitrechnung der Bahn, sondern zwei Jahrzehnte zurück, landet man wieder in Köln. Das Theater der Welt 1981 – mit der parallelen „West Kunst“- Schau im Museum Ludwig – gilt heute als legendär. Damals war die Welt noch ordentlich in Ost und West geteilt, das Wort Globalisierung unbekannt, der Festivalgedanke hatte etwas ebenso Nobles wie Exotisches. Heute herrscht Festival-Inflation – selbst innerhalb der jeweiligen Programme.

Man muss sich entscheiden. Vielleicht wären wir am Sonntagabend lieber nicht nach Duisburg gefahren. Dort proklamiert Christoph Schlingensief im Stadttheater seine „Aktion 18“ zum Bundestagswahlkampf. Schlingensief haben wir satt. Aber dann siegt doch die Neugier, der Aktualitätswahn. Schlingensief knöpft sich Möllemann vor. Den haben wir noch viel satter. Treffen sich da nicht zwei Quassel- und Krawallbrüder im Geiste?

An der Rampe stehen, mit Blumenschmuck, zwei große Portraits: der FDP-Alleinunterhalter Jürgen W. Möllemann und Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Erfurt. Schlingensief hat hier ein Heimspiel im Ruhrgebiet. Er tobt wie ein Voodoo-Schweinepriester mit elektrisiertem Haarschopf durch den Aufbau seiner Berliner Allzweck-Show „Quiz 3000“. Immer wieder schlägt er auf Möllemann ein. Umarmt das Konterfei von Steinhäuser („mein Schatz“). Zerhackt ein Scharon-Foto. Rappt: „Euthanasie für alle! Islam ist Scheiße! Ich bin schwul!“ und „Tötet Möllemann!“

Da kann man sich das Passende heraussuchen. Die Freaks, die musizierende Behinderten-Combo, ist auch wieder dabei. Cem Özdemir (der echte Grünen-Politiker) assistiert beim Idioten-Quiz. Ach ja: Fünf Jahre ist es schon wieder her, dass Schlingensief auf der Documenta in Kassel die Parole „Tötet Helmut Kohl!“ ausgab. Jetzt Möllemann. Doch diesmal hat der surreale Schrei etwas Selbstmörderisches. Wir müssen unser Kommen doch nicht bereuen. Denn es ist endgültig heraus: Schlingensief ist der Möllemann des Kulturbetriebs!

Am Nachmittag waren wir im Gefängnis. Die Gruppe Teatro da Vertigem aus Sao Paulo spielt in der JVA Köln-Ossendorf „Apocalipse 1,11“, ein brasilianisches Gesellschaftspanorama nach der biblischen Offenbarung des Johannes, zum Mit-Laufen und Mit-Leiden. Wir werden von martialischen Theatersoldaten durch Versorgungskeller, durch endlose, dunkle Gänge gehetzt und gebrüllt. Infernalischer Wabersound, überall liegen Theaterleichen, im Kinosaal des Gefängnisses haben die Brasilianer einen Nachtclub eingerichtet, das „Neue Jerusalem“. Babilonia, die große Hure, und ein Transvestiten-Teufel führen das Kommando im Tempel der brasilianischen Demokratie, die sich aus Korruption, Gewalt und einem irren religiösen Synkretismus speist. Ein Ureinwohner-Pärchen fickt auf offener Szene, mit Kondom. Eine riesenbrüstige Frau im Rollstuhl, Opfer des brasilianischen Contergan-Skandals, brabbelt die Landesverfassung, wird vergewaltigt. Am Ende steigt in der Gefängniskirche das Jüngste Gericht, mit Folterszenen, der Richter, Gott, erhängt sich.

Es ist aber nicht die (ermüdende) Drastik, die irritiert, sondern die Art und Weise, wie der Knast als Kulisse benutzt wird. (In Sao Paulo haben sie das Stück in einem leer stehenden Gefängnis aufgeführt). Einmal, in einem Durchgang, sehen wir hinter dickem Glas und Gittern einige Strafgefangene stehen. Sie sind von dem Kulturevent ausgeschlossen. Diese Produktion, erklärt Matthias Lilienthal, warf solche wahnsinnigen Probleme auf, dass sie die Organisation des Festivals beinahe gesprengt hätte. Eine Aufführung von „Apokalipse 1,11“ für (ausgewählte) Gefängnisinsassen sei aber geplant. In zensierter Form: Szenen in vollkommener Finsternis scheiden aus Sicherheitsgründen aus, und man ist sich nicht im Klaren darüber, ob Live-Sex auf der Bühne für die eingesperrten Männer eine Tortur oder ein willkommener Anblick wäre.

Entgrenzung. Zeitverschiebung. Kollision. Und Überblendung: Darauf geht ein Theaterfestival dieser Dimension schließlich aus. Im Kölner Schauspielhaus erleben wir die China Peking Opera Company mit „Jiang Jie“, eine actionreiche und auch schon epigonale Hommage an den Kampf der Maoisten; für unsere Sinne ein exotisches Mach- und Meisterwerk, das wiederum an Bruce Lee, Brecht-Lehrstücke, das Theater des Robert Wilson und die chinesische Tradition erinnert. Im Schlussbild wird die schöne Heroin Jian Jie, nachdem sie eine Ewigkeit an einer roten Fahne gestickt hat, von den Nationalchinesen hingerichtet. Ein formstrenger, hoch artifizieller, ästhetischer Akt – wir müssen weiter nach Köln-Kalk, zu „Apocrifó l: El Suicidio“, einer schmuddeligen Performance der Gruppe El Periférico de Objetos.

Über den Selbstmord: Hier begegnen wir einer bis zur Unverständlichkeit frei assoziierenden Gruppe von Menschen aus Buenos Aires, die mit Tiermasken, Musikinstrumenten und Bild-Projektionen einen Theater-Essay durchziehen, wie einen Drogentrip. Tausend Tode: Das scheint im Verborgenen der rote Faden dieses Festivals zu sein, das noch bis zum 30. Juni seine Netze über Rhein und Ruhr spinnt. Der Pole Krystian Lupa zeigt in Bonn „Die Auslöschung“ nach Thomas Bernhard, sein Kollege Grzegorcz hat am Düsseldorfer Schauspiel „4. 48 Psychose“ inszeniert, die suizidalen Notate der Sarah Kane. Die Gruppe Hollandia erforscht „Die Bakchen“ des Euripides. Homizid und Suizid als (einzige) zivilisatorische Konstante?

„Are you political?“ Die Frage stellt eine Theater der Welt-Installation im Museum Ludwig. Dort treffen wir im Video auf Jeff Koons und Einar Schleef. Politisches Theater? Theater des Todes? „Du bist die Welt“, hieß im letzten Jahr die Globalisierungsreihe der Wiener Festwochen. „Du bist die Katastrophe“, frohlockt das Schlingensief-Quiz.

Wahnsinniger Input. Egal, wie man sich entscheidet: Beim Festival-Surfen verengt sich der Horizont, bevor er sich erweitert.

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