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Der versehrte Bauer und seine Kuh. Szene aus Hans-Dieter Grabes Dokumentarfilm „Anton und ich“.

© Festival

Duisburger Filmwoche: Popcorn macht krank

Empathie, Erfahrung und Beharrlichkeit: Notizen von der 41. Duisburger Filmwoche.

Zwei kleine Mädchen im Pyjama spinnen im Bett vergnügt herum. Ihre Fantasie kreist um unwahrscheinliche oder technisch komplexe Fahrzeugkombinationen vom Fahrrad bis zum Luftgefährt. „Hast du schon mal eine Eisenbahn auf einem Auto gesehen?“, fragt die eine. Kaum ist es benannt, sehen wir das gerade noch Imaginierte ganz real – auf inszenierten oder aus dem Archiv zusammengesuchten Filmschnipseln. Ein herrlich verspielter Spaß mit magischen Anklängen, etwa wenn eine Jacht mit gesetzten weißen Segeln auf dem Dach eines roten VW-Käfers durch einen Wald schwebt.

Die beiden Mädchen sind die Töchter von Harun Farocki. „Einschlafgeschichten“ heißen die selten gezeigten Perlen aus dem Frühwerk des Filmemachers, der auch für die Sesamstraße und Sandmännchen arbeitete. Es war ein besonderes Glück, ihre Wiederaufführung nicht in einem Publikum von Filmhistorikern zu sehen, sondern inmitten von Kita-Kindern, die extra dazu ins Duisburger Filmforum angereist waren. Anlass war die 16. Ausgabe des Kinderdokumentarfilmfestivals „Doxs!“, mit dem ein ganzjähriges medienpädagogisches Programm in den Schulen der Region im Herbst parallel zur „erwachsenen“ (und mit 41 Ausgaben etwas älteren), dem deutschsprachigen Dokumentarfilm gewidmeten Duisburger Filmwoche ihren Höhepunkt findet.

Die Kids waren von Farockis filmischen Miniaturen begeistert, auch wenn (oder weil?) dessen sachliche – von ihm selbst „dichotomische Methode“ genannte – Filmsprache sich stark vom heutigen Kinderkino der Einfühlung unterscheidet. Sie wollten ihrer Begeisterung so leidenschaftlich Ausdruck verleihen, dass die Moderatorin Aycha Riffi die Rednerliste wegen Überfüllung schließen musste. Denn der diskursive Rahmen, für den die Filmwoche einen Ruf hat, wird auch bei „Doxs!“ gepflegt. So lernen einige Kita-Kinder aus dem Ruhrgebiet – viele wohl zum ersten Mal – neben einem werbe- und popcornfreien Kino und einer ungewohnt freien Filmsprache auch den aufmerksamen und bewussten Umgang mit bewegten Bildern kennen.

Atelier de Conversation“ von Bernhard Braunstein bekam den arte-Preis

Für die Filmwoche bedeutet das, dass jede der 26 vorgestellten Arbeiten in einem separaten Saal ein ausführliches moderiertes und schriftlich protokolliertes Gespräch bekommt. Ein schon oft gewürdigtes Ritual, dem dieses Jahr sogar eine eigene Veröffentlichung gewidmet war: „Aussichten. Öffentliches Reden über Dokumentarfilm“ heißt die nicht nur für Filmwochen-Insider lesenswerte Metalektüre. 17 mit dem Festival verbundene Autorinnen und Autoren schreiben hier aus unterschiedlichsten Perspektiven.

So passt es, dass mit dem Arte-Preis auch einer der beiden Hauptpreise des Festivals an einen Film ging, der fast nur aus frontalen Gesprächssequenzen montiert ist. „Atelier de Conversation“ von Bernhard Braunstein präsentiert eine moderierte offene Konversationsgruppe des Pariser Centre Pompidou, die von Nicht-Franzosen unterschiedlichster sozialer und geografischer Herkunft zum sprachlichen Austausch genutzt wird. So sitzen Arbeitsmigranten, Sprachstudentinnen, Wissenschaftler und Flüchtlinge gemeinsam im Stuhlkreis und reden über Vorurteile, Sehnsüchte oder die Rolle der Frau. Eine nachahmenswerte Keimzelle gleichberechtigten interkulturellen Austauschs, die von Braunsteiner kongenial in einer ebenso ausgeklügelten wie geradlinigen Montage präsentiert wird, die sukzessive die Sicht auf die räumliche Eingebundenheit der Situation freigibt.

Auch zwei andere Auszeichnungen gingen an österreichische Produktionen. Den 3-Sat-Preis erhielt Flavio Marchetti für „Tiere und andere Menschen“, ein klassisch gebautes Institutionen-Porträt über die Arbeit des Wiener Tierheims, das mit viel Humor und einem reichhaltigen Bestiarium auch einen deutschen Verleih finden dürfte.

"Spielfeld" bekam den Nachwuchspreis

Den Nachwuchspreis Carte Blanche bekam der schon bei der Diagonale in Graz ausgezeichnete Kurzfilm „Spielfeld“: Eine prägnant gestaltete Situationsbeschreibung von zwei Münchner Filmstudentinnen, die den gleichnamigen österreichisch-slowenischen Grenzort ein Jahr nach dem großen Ansturm besuchen. Leere Großzelte und Zaunanlagen, zwischen ihnen eher ratlos die Einheimischen, die monatelang im Brennpunkt der Geschichte standen und sich nun ganz am Rande befinden. Die Filmemacherinnen Kristina Schranz und Kamerafrau Caroline Spreitzenbart durchmessen diesen Ort im Wartestand in langen Einstellungen, sprechen mit einzelnen Einwohnen und lassen sich die polizeilichen Anlagen erklären.

Zu den langjährigen Wegbegleitern des Festivals gehörte neben dem 2014 verstorbenen Harun Farocki auch der 80 Jahre alte Hans-Dieter Grabe, der genug Erfahrung hat, seine Sujets im scheinbar Unscheinbaren zu finden. Genug Beharrlichkeit, auch unter widrigen Umständen dran zu bleiben. Und die anderen fehlende Weisheit, die eigene Rolle im Drehprozess mitzudenken. „Anton und ich“ heißt deshalb die Langzeitbeobachtung, in der Grabe mit der Kamera seinen langjährigen Pensionswirt in den bayerischen Alpen begleitet, der wegen eines Handicaps nur noch mit Krücken den Stall ausmisten und Frühstück machen kann.

Von Exploitation hat das nichts, im Gegenteil ist das Filmen hier auch Ausdruck anteilnehmender Unterstützung des Filmemachers für seinen zunehmend schwächelnden Helden. Dann, man befürchtet schon das Schlimmste, kommt auch vor der Kamera unerwartet Hilfe. Einige tatkräftige junge Menschen ziehen in Antons Hof ein. Die von Filmwochenleiter Werner Ružicka im Katalog für den Dokumentarfilm programmatisch eingeforderte Herstellung von „Empathie durch Evidenz“ wird hier durch die auf der Leinwand praktizierte Empathie fast zu einem Happy End.

Doch der Zuschauer weiß auch, dass Antons Hof nach seinem Tod fast sicher an einen Investor gehen wird.

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