zum Hauptinhalt
Poe

© dpa

Edgar Allan Poe: Die amerikanische Nervosität

Gewalt und Moderne: zum 200. Geburtstag des visionären Dichters Edgar Allan Poe.

Von Gregor Dotzauer

Meist reden sie nicht lange darum herum, wie es um sie steht. „Man hat mich einen Wahnsinnigen genannt“, erklärt der Protagonist von Edgar Allan Poes Erzählung „Eleonora“. „Aber es ist eine noch ungelöste Frage, ob nicht der Wahnsinn die höchste Stufe der Geistigkeit bildet und ob nicht vieles Erhabene, ja alles Tiefsinnige auf Kosten einer geistigen Erkrankung oder einer den gemeinen Verstand übersteigenden Gemütsschwankung geht.“ Der Mörder, der in einer von Poes berühmtesten Shortstorys, „Das verräterische Herz“, das Genie seiner Tat preist, legt Wert darauf, für voll genommen zu werden: „Wahrhaftig, nervös, furchtbar nervös war ich und bin ich; aber warum besteht ihr darauf, dass ich wahnsinnig sei? Die Krankheit hat mir die Sinne nicht abgestumpft oder zerstört, sondern geradezu verfeinert.“ Und der Erzähler der „Flaschenpost“ bittet inständig darum, seine „unglaubhafte Geschichte“ nicht als „den ungezügelten Ausfluss wilder Fantasterei“ zu lesen, sondern als den „exakten Erfahrungsbericht eines nüchternen Geistes“.

Poe springt den Leser an und katapultiert ihn in jene Bewusstseinszonen, in denen seine Helden sich mit unbestechlicher Genauigkeit dabei beobachten, wie sie zu hysterischer Hellsichtigkeit erwachen oder in die Zerrüttungen ihrer Seele abtauchen. Die Widerstandsfähigen ringen darum, nicht den Verstand zu verlieren, und die Angegriffenen mühen sich, die neue Ordnung ihrer aus den Fugen geratenen Welt zu durchdringen. Letztlich aber schlagen sie sich alle durchs gleiche psychopathologische Unterholz.

Nicht nur Poes Meistererzählung „Der Untergang des Hauses Usher“, die beide Charaktere zusammenbringt, lässt offen, was unheimlicher ist: eine schwere „Affektion der Nerven“, wie sie Roderick Usher zwingt, sich in abgedunkelten Zimmern vor einer „Legion widernatürlicher Empfindungen“ zu schützen, indem er sich nur die fadesten Speisen gönnt, den beklemmenden Geruch von Blumen meidet und allenfalls leise Gitarrenmusik erträgt. Oder die schleichende Infektion durch das Entsetzen, die der Erzähler erleidet, indem er seinem Kindheitsfreund beim Verfall zusieht, obwohl er ihr mit allen analytischen Reserven seines Verstandes Herr zu werden versucht.

Natürlich kommt es Poe auf eine Entscheidung nicht an. Wo jeder Schritt ins vermeintliche Licht der Rationalität die Begegnung mit neuen Dämonen zur Folge haben kann, liegt in der Hoffnung, die Vernunft könne den Wahnsinn in Schach halten, wenig Sinn. Und die Geschichten wollen zunächst einmal überwältigen. „Poe“, schreibt Franz Blei 1922 im Vorwort zu seiner deutschen Ausgabe von Poes „Gesammelten Werken“, „zwingt sich einem weniger durch die logische Wahrscheinlichkeit seiner Deduktionen auf, als durch den überlegenen Ton eines affirmativen und absoluten Wortes, er hat eine Art, sich des Lesers mit der Geste einer verachtungsvollen Herrschaft zu bemächtigen, gegen die man keine Abwehr findet.“

In dieser bis heute unvermindert funktionierenden Wirkungsästhetik, die Poe 1846 in seinem Essay „Die Philosophie der Komposition“ entwickelt, ist er uns auch 200 Jahre, nachdem er am 19. Januar 1809 in Boston geboren wurde, noch ganz nah. Man trivialisiert die schwarze Romantik seiner Geschichten überdies, wenn man sie, wie in den jüngsten Hörspielfassungen, mit lautstark wabernden Nebeln des Grauens anreichert. All die archetypischen Fantasien vom Lebendigbegrabensein etwa, die Poe so nackt und physisch schildert, als hätte sich über einem selbst der Sargdeckel geschlossen, brauchen keine weiteren Splattereffekte.

Bei aller Gegenwärtigkeit darf man sich aber nicht darin täuschen, dass die seelischen Zustände, von denen Poe erzählt, auch historischer Natur sind. Überreiztheit, Gemütskrankheit, Nervenschwäche – die Wortfelder, denen sein Vokabular entstammt, gehören zweifellos ins 19. Jahrhundert und einen psychiatrischen Diskurs, der die Rede von Degeneriertheit, Hypochondrie und Hysterie hervorbringt. Der amerikanische Medizinhistoriker Edwin Shorter stellt in seiner „Geschichte der Psychiatrie“ einleuchtend dar, wie der euphemistische Gebrauch der Nervenmetapher den einfachen Begriff des Irrsinns ablöst und die Schmach der völligen Ausgrenzung eine gesellschaftlich tolerierbare – und therapierbare – Form findet.

In ihrem deutschen Konkurrenzwerk gleichen Titels liefern Heinz Schott und Rainer Tölle eine ganze Begriffsgeschichte der Persönlichkeitsstörungen, wie sie von Philippe Pinels manie sans délir (1801) bis zu den vielgestaltigen personality disorders gegen Ende des 20. Jahrhunderts reicht und über die monomanie, die moral alienation of the mind und die moral insanity vieles von dem umfasst, was sich auch Poes Figuren nachsagen lässt – nur dass man sie eher in der Todeszelle als in der Klinik oder im Kurbad findet und die sorgfältig kontrollierte, selbstreflexive Zergliederung ihres Zustands sie als Brüder der Kontrolle über uns selbst ausweist.

Der Mord, den etwa der Erzähler in „Der schwarze Kater“ verübt, ist ein Mord, den jeder begeht. Denn in jedem wohnt der feixende Kobold, dem Poe mit „The Imp of the Perverse“ eine eigene Geschichte widmet und den er im „Schwarzen Kater“ als „ursprüngliche Triebkraft“ des Menschen bezeichnet. „Wer hat sich“, fragt er, „nicht schon hundert Mal bei einer törichten oder niedrigen Handlung ertappt, die er einzig und allein deshalb beging, weil sie verboten war? Sind wir nicht all unserer besseren Einsicht zum Trotz ständig geneigt, das, was Gesetz ist, nur deshalb zu übertreten, weil wir es als solches erkannt haben?“ Mit dieser Leidenschaft, „das Falsche allein um des Falschen willen zu tun“ und damit einen „Beweggrund ohne Motiv“ zu besitzen, bereitet er Dostojewskis Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ den Boden.

Zugleich ist Poe der Vorbote jener „American Nervousness“, die der New Yorker Neurologe George Miller Beard 1871 in seinem gleichnamigen Buch untersucht. Beard, der den Begriff der Neurasthenie prägte, trägt darin Gründe für eine Zivilisationskrankheit zusammen, die sich aus dem modernen Großstadtleben ergibt: den Pünktlichkeitsdruck, den die Armbanduhr auslöst, die Nachrichtenbeschleunigung durch den Telegrafen, ja sogar das Reisen mit der Bahn.

Poes epochemachende Erzählung „Der Mann der Menge“, die Charles Baudelaire und Walter Benjamin zu ihren Flaneurstheorien inspirierte, entwirft ein unheilvolles Bild des Gewoges, in das sich der Erzähler eine Nacht lang bis zum frühen Morgen bei der Verfolgung eines alten Mannes stürzt, in dem er den „Geist des tiefsten Verbrechens“ und „das böseste Herz der Welt“ entdeckt.

Auch „The Man of the Crowd“ ist ein Versuch, nach Halt und Ordnung zu suchen, wo sich nur bedingt Halt und Ordnung finden lässt. Man kann deshalb bei Poe, wie es die Forschung tut, zwar durchaus verschiedene Genres ausmachen und den Autor der Schauergeschichten von dem der Detektivgeschichten unterscheiden – in Gestalt von Chevalier C. Auguste Dupin erfindet er den ersten modernen Detektiv, der im „Doppelmord in der Rue Morgue“ scharfsinnig herleitet, dass nur ein entlaufener Orang-Utan die Tat begangen haben kann. Aber selbst der Dichter, der hier nicht gewürdigt werden kann, schwingt sich in seinem letzten Werk aus dem Revolutionsjahr 1848 zu einer Deutung des Kosmos von der Entstehung bis zum Untergang auf, deren interne Logik sich von keinerlei empirischem Material stören lässt. Das mehr als prosaisch geratene, Alexander von Humboldt gewidmete Großpoem „Eureka“ trägt die ganze hybride Passion eines Geistes in sich, der sich auch die Quadratur des Kreises zugetraut hätte.

Da schiebt sich auf einmal eine Barriere zwischen Poe und den heutigen Leser, die man in vielen seiner Geschichten womöglich nur nicht wahrnimmt. Denn ist das Grauen, das Poe beschwört, nicht seit langem externalisiert? Die Mörder, wie er sie von innen heraus erkundet, leben zwar nach wie vor mitten unter uns, aber nicht mehr in unseren verbrecherischen Herzen. Es sind die anderen, und die ganze Kunst besteht darin, sie in ihren Serienmörderinstinkten rechtzeitig zu erkennen oder die Fratze hinter ihrer Normalitätsmaske zu enthüllen.

Die kalte Gewissenserforschung, die Poe noch treibt, hat sich in den Zeiten von „CSI“ in eine forensisch objektivierte Tätigkeit verwandelt. Das Geschäft der Einfühlung ist an die methodisch geschulten Profiler übergegangen. Und doch gibt es auch bei Poe Ansätze, diese jüngste Form der Verbrechensbekämpfung zu erfassen. „Die Geschichte der Marie Rogêt“ nimmt einen authentischen Fall zum Anlass, mit Hilfe von Presseberichten einen Mordfall zu lösen.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Mark Seltzer geht in seinem faszinierenden Buch „True Crime – Observations on Violence and Modernity“ (Routledge, New York 2007) der paradoxen Beziehung zwischen der fiktionalen und der faktischen Ebene eines Genres nach, das in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht hat. True crime, schreibt Seltzer, ziehe „von Beginn an die Trennungslinie von Fakt und Fiktion in Zweifel“. Der Begriff selbst beinhalte, dass man Verbrechen einerseits als etwas Fiktionales betrachten müsse, während das Beiwort true es andererseits im Tatsächlichen verankere. Nicht von ungefähr, so Seltzer, müssten die Profiler des FBI in ihrer Ausbildung die frühe crime fiction von Poe lesen, aber auch die Pulp-Romane von Thomas Harris, dem geistigen Vater von Hannibal Lecter. Poe sollte es als Ehre ansehen, auch auf diese Weise lebendig zu bleiben.

Edgar Poe wird am 19. Januar 1809 in Boston, Massachusetts, als zweiter Sohn eines Schauspielerehepaares geboren. Tod der Eltern in den beiden folgenden Jahren. Aufnahme in die Familie des Kaufmanns John Allan.Schulbesuch in London ab 1817.

Rückkehr nach Amerika 1820, nachdem John Allans Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Erste Versuche als Dichter. Studium der alten und neuen Sprachen in Charlottesville ab 1826, im selben Jahr Exmatrikulation wegen ungebührlichen Verhaltens.

1827 Bruch mit dem Pflegevater. Poes erster Lyrikband Tamerlane and other Poems erscheint. 1829 Tod der Pflegemutter. Gewinnt 1833 mit MS. Found in a Bottle den ersten Preis bei einem Schreibwettbewerb. 1834 Tod des Pflegevaters.

Heiratet 1836 die 13-jährige Virginia Clemm. Kritiker und Redakteur verschiedener Zeitungen. Alkoholprobleme, Entlassungen, Umzüge, ökonomische Unsicherheit. Zahlreiche Veröffentlichungen als Erzähler. 1847 Tod Virginias. Am 3. Oktober 1849 wird Poe bewusstlos in Baltimore gefunden und stirbt vier Tage später.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false