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Blick auf Florenz und den Dom

© Archiv Verlag Klaus Wagenbach

„Edition Giorgio Vasari“: Der Puls der Mona Lisa

Giorgio Vasari gilt als Vater der Kunstgeschichte. Der Wagenbach Verlag hat jetzt die große Edition seiner „Viten“ vollendet.

Nun ist die Sensation perfekt. Nicht im Sinne einer jähen Überraschung, vielmehr: als Ereignis und Vollendung. Denn der kleine, feine Berliner Wagenbach Verlag hat etwas Verwegenes und ganz und gar Großartiges zum Abschluss gebracht. Vor elf Jahren begonnen, liegen jetzt 45 Bände der „Edition Giorgio Vasari“ vor. Recht eigentlich: die Erfindung der Kunstgeschichte. Daran erinnert an diesem Mittwoch im Berliner Bode-Museum auch ein internationales Vasari-Symposium, bei dem es gilt, Klaus Wagenbachs Wagnis zu feiern.

Als der Student K. W. in den fünfziger Jahren von Frankfurt am Main erstmals nach Italien fuhr – auf dem Fahrrad –, da hatte er sich mit Exzerpten der Vasari’schen „Vite“ gewappnet, jener „Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten“. Damals las der junge Wagenbach wohl die unvollständige, aber schon eindrucksvolle erste deutsche Ausgabe in der Zusammenstellung von Ludwig Schorn und Ernst Förster, die gut hundert Jahre alt war. Eine moderne, kritische Edition der insgesamt über 160 Künstlerbiografien, die Giorgio Vasari 1550 sowie in einer überarbeiteten, erweiterten Version 1568 in Florenz veröffentlicht hatte, gab es auch in Italien erst in den Jahren 1966 bis 1987 bei Einaudi in Mailand.

Vasari möglichst vollständig und verständlich, ja verführerisch auf Deutsch zu präsentieren, war ein Herzenswunsch des mittlerweile 85-jährigen Verlegers. Er hat sich erfüllt, seit im Jahr 2004 als Eröffnungsband bei Wagenbach zum überhaupt ersten Mal eine Übersetzung von Vasaris eigener grundlegender „Kunstgeschichte und Kunsttheorie“ erschienen ist (ursprünglich die „Vorrede zum Gesamtwerk“). Das alles verdankt sich der Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Kunsthistoriker Alessando Nova als Herausgeber und der Übersetzerin Victoria Lorini sowie den Hauptkommentatoren Matteo Bureoni und Sabine Feser, finanziell unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Gerda Henkel Stiftung und dem Italienischen Außenministerium.

880 Seiten Renaissance

Inzwischen sind Wagenbachs olivgrüne Paperbacks mit den hier neu übertragenen und reich kommentierten Lebens- und Werkgeschichten zur Kunst des 14. bis 16. Jahrhunderts längst Kult. Es geht bei den rund 8800 Seiten mit vielen meist farbigen Abbildungen auch um eine erste, fundamentale Reflexion der Renaissance.

Kulturgeschichte? Mehr noch ein Stück Weltgeschichte aus dem Herzen Italiens. Dieser gleichsam universelle Anspruch muss dem Maler, Architekten und Schriftsteller Giorgio Vasari von Anfang an bewusst gewesen sein. Denn der 1511 in Arezzo geborene, 1574 in Florenz gestorbene Toskaner war überzeugt, dass er in einer außergewöhnlichen Epoche lebte, geprägt von den größten Meistern der Welt, die seine unmittelbaren Landsleute waren. Und sie wollte er auch der Nachwelt im Gedächtnis halten, mit einem Projekt sondergleichen, das zugleich eine Neuerfindung des von antiken Autoren wie Plutarch und Sueton begründeten Genres der Biografie bedeutete.

Vasari gliedert die Kunst der Neuzeit wie die Historie der großen Reiche in drei Phasen: Aufstieg, die Hochblüte, dann drohen Niedergang und Zerfall. Dieses Werden und Vergehen von Malerei, Skulptur und Architektur lässt Vasari mit den spätmittelalterlichen Meistern wie Cimabue oder Giotto beginnen, und die Krönung, die perfezione, zeigen die Werke von Leonardo da Vinci, Raffael und Michelangelo Buonarotti.

Frontispiz der Originalausgabe.
Dokument einer besonderen Zeit. Frontispiz der Originalausgabe.

© Archiv

Augenzeugen kommen zu Wort

In der Architektur mag noch Filippo Brunelleschi, der Erbauer der Domkuppel von Florenz hinzukommen, und als Maler der erst in die zweite Auflage 1568 aufgenommene Tizian. Sie sollen durch ihre Lebens- und Werkbeschreibungen für künftige, womöglich weniger geniale Epochen vor dem Vergessen bewahrt und als Vorbilder verewigt werden. Dies ist Vasaris Programm, das den Künstler trotz aller Abhängigkeit von seinen Auftraggebern – wie den Medici in Florenz oder der römischen Kirche – auch in den Rang des Freien und Autonomen rückt.

Ein Riesenunternehmen mit enormen Recherchen in Palästen, Privatvillen, Klöstern, Kirchen, an öffentlichen Plätzen und in frühen Archiven. Vasari hat ein Netzwerk von Informanten gesponnen, hat sich von echten und angeblichen Augenzeugen erzählen lassen, und so gibt es in manchen Details natürlich Irrtümer über Orte, Werke, Jahreszahlen, Zuschreibungen. Außerdem folgte Vasari durchaus seinen persönlichen Vorlieben und Aneignungen. Der Bildhauer Benvenuto Cellini, Schöpfer des Perseus in der Loggia dei Lanzi in Florenz und Vasaris Konkurrent am Hof von Cosimo I., erhält keine eigene Vita. Und der virtuose Sodoma wird am Beispiel seiner (wunderbaren) Fresken im Kreuzgang der Benediktinerabtei von Monte Oliveto Maggiore, südlich von Siena, angestänkert.

Sodoma (1484 –1555) umgab sich mit sprechenden Raben, Berberaffen und vielerlei anderem Getier (das er witzig in seinen Bildern zitiert), er war ein hübscher Lebemann und wird von Vasari ziemlich säuerlich als Spaßvogel und, wegen seines Künstlernamens, als Knabenliebhaber denunziert, obwohl Vasari selbst, wie sein Idol Michelangelo und andere Renaissancekünstler, als bisexuell oder homoerotisch galt. Sogar dem verehrten Raffael unterstellt er, dass allzu viele Frauenliebschaften zum frühen Tod mit nur 37 Jahren geführt hätten.

Selbstbildnis von Giorgio Vasari
Chronist der Künstler. Selbstbildnis von Giorgio Vasari (1511–1574).

© Uffizien, Florenz

Brunelleschi und die Kuppelwöblung

Derlei Pikantes, Frappantes wird in den umfangreichen Kommentarteilen der Wagenbach-Edition ebenso akribisch aufgeklärt wie der jeweilige kunst- und zeitgeschichtliche Hintergrund. Interessant ist zudem, wie sich mit Vasaris „Viten“ das toskanische Literatur-Italienisch entwickelt, dabei beeinflusst von den Vorbildern Dantes, Boccaccios, Ariosts und im geistigen Austausch mit dem Zeitgenossen und Freund, dem Dichter Pietro Aretino.

Vasari nämlich kann meisterhaft erzählen und pointieren. Grandios eine Schlüsselszene der Architekturgeschichte, als Brunelleschi 1430 dem Rat von Florenz seine Pläne für die beispiellos kühne Kuppel des Dombaus erläutert, dabei auf Zweifel und Unglauben stößt und schließlich zu einer Art Wette mit seinen Konkurrenten einlädt. Wer ein Hühnerei auf einer Marmorplatte ohne Hilfsmittel zum Stehen bringe, der solle den Zuschlag erhalten. Keinem gelingt das Kunststück, dann nimmt Brunelleschi das Ei und stößt es auf der Platte leicht auf, sodass es steht. Als die anderen sagen, das hätten sie auch gekonnt, erwidert Brunelleschi lachend, ja, das gelte ebenso für die Kuppelwölbung – aber erst, nachdem er die Idee gehabt habe.

Beim Selbstporträt des Parmigianino im konvexen Spiegel von 1524, das heute in Wien hängt, erkennt Vasari sofort die perspektivische Kühnheit und erzählt zudem anschaulich, wie der verblüffende Zerrspiegeleffekt handwerklich hergestellt wurde. Oder die haarfeine Schilderung der „Mona Lisa“. Da kommen zwar Wimpern vor, die Leonardo da Vinci gar nicht gemalt hat, aber Vasari gibt von dem schon im 16. Jahrhundert auratischen Bild der lächelnden jungen Frau einen ungeheuer sinnlichen Eindruck: „Wer genau auf die Grube an ihrem Hals achtete, der konnte den Puls schlagen sehen.“ Und tatsächlich hat der Ansatz des Halses eine winzige, leicht verschattete Einbuchtung, auf die man sonst kaum achten würde. Vasari besaß offenbar ein fotografisches Hirn. Allerdings: Er hat dieses Gemälde nie gesehen, es war schon bei Vasaris Geburt in Frankreich, wo der Toskaner nie gewesen ist. Ein Wunder. So sagenhaft wie diese ganzen Vasari-Viten.

Die Vasari-Gesamtausgabe im Wagenbach Verlag mit allen 45 Bänden kostet bis 31. Dezember 598 €, danach 660,60 € (Einzelbände je nach Umfang zwischen 10,90 € und 24,90 €). Weitere Vasari-Viten erscheinen in den folgenden Jahren noch online.

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