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Kultur: Edle leichte Mädchen

Eine Lesereihe präsentiert unverfilmte Defa-Drehbücher. Zu den Entdeckungen zählt ein Szenarium von Jurek Becker

Im Dezember 1965 verbannte das 11. Plenum des ZK der SED eine halbe Defa-Jahresproduktion in den Giftschrank. Anstatt kritische Weltsichten zu zeigen, sollte die DDR-Filmfabrik sich von nun an wieder stärker auf das Lob der sozialistischen Sache konzentrieren. Frank Beyers „Spur der Steine“, heute ein Klassiker, war zu diesem Zeitpunkt bereits abgedreht. Seine Uraufführung im Juni 1966 wurde von inszenierten Pöbeleien gestört, wenige Tage später war der Film nicht mehr in den Kinos.

Andere Filmstoffe schafften es gar nicht erst auf Zelluloid. 950 Spielfilme und Kurzspielfilme hat die „Deutsche Film AG“ von ihrer Gründung 1946 bis zu ihrer Abwicklung 1991 produziert. Dagegen steht die stolze Zahl von 4600 im Bundesarchiv-Filmarchiv überlieferten Drehbüchern. Für eben diese nicht realisierten Stoffe interessiert sich die Lesereihe „Defa unverfilmt“ im Babylon-Kino in Mitte. Hier finden an insgesamt fünf Abenden szenische Lesungen verschiedener bisher unveröffentlichter Szenarien und Treatments statt. „Ich möchte zeigen, dass die Defa noch viel mehr ist als ‚Paul und Paula’“, sagt Anna Haase, die Organisatorin. Mit den bisher unveröffentlichten Filmstoffen aus allen Genres und Defa-Epochen will sie Material „aus erster Hand“ präsentieren, keine „posthume“ DDR wie in „Good bye, Lenin!“ oder „Das Leben der Anderen“. Hasse möchte ihre Reihe als „Geburtstagsgeschenk“ zum 60. Jubiläum der Defa verstanden wissen.

Die wenigsten Stoffe seien allein aus politischen Gründen abgelehnt worden, sagt Rudolf Jürschik, Defa-Chefdramaturg von 1977 bis 1991. Was weniger an der Zahmheit der Autoren lag als an der Struktur des DDR-Filmsystems. Die Defa war ein Monopolbetrieb. Wollte ein Autor seine Geschichte ins Kino bringen, führte an Babelsberg kein Weg vorbei. Und es wurde gesiebt. Eine Filmidee wurde zunächst einer Dramaturgengruppe vorgeschlagen, die mit dem Autor ein Exposé erarbeitete und später ein Treatment. Erst wenn dieses dem Chefdramaturgen gefiel, wurde ein Szenarium in Auftrag gegeben, die letzte, detaillierteste Stufe vor dem Drehbuch. Und auch dieses konnte noch vom Generaldirektor gekippt werden. Auf jeder Station wurde diskutiert, was innerhalb des Systems möglich war. Und manchmal hieß es dann eben: „Det wird nüscht“ (Jürschik).

So verschwand etwa Thomas Knaufs „Hiob, letztes Kapitel“ (1984) schon als Exposé in den Schubladen des Defa-Lektorats. Knauf wird am 26. September im Babylon selbst aus seiner modernen Variante des Bibelstoffes lesen: Ein 80-jähriger KZ-Überlebender und Schulbuchschriftsteller hadert mit dem Staat. Der junge Punker, den er adoptiert, gerät auf seine eigene Weise mit der sozialistischen Gesellschaft in Konflikt – diese generationsübergreifende Systemkritik war der Defa zu viel.

Letztlich aber seien die ausschlaggebenden Gründe für eine Ablehnung von Fall zu Fall verschieden gewesen, bis hin zu vorauseilendem Gehorsam und Kleingeisterei, wie Jürschik betont: „Ich will mich nicht pauschal hinter der Ökonomie verbergen. Aber ich habe auch überhaupt keine Lust zu sagen: Das war eine einzige politische Machtentscheidung. Das war es nicht.“ Die Grimmelshausen-Adaption „Simplicius Simplicissimus“, mit dem die Babylon-Reihe startete, scheiterte an ihrer eigenen Größe. Zweimal, 1965 und 1981, wurden Anstrengungen unternommen, um das Mammutprojekt zu realisieren. Mit 16 Millionen Mark, fast der Hälfte des Defa-Jahresetats, waren am Ende die Kosten zu hoch. Obendrein waren Regisseur Heiner Carow und Autor Franz Fühmann kulturpolitisch „keine sicheren Kandidaten“, so Jürschik.

Das Treatment „Die edlen leichten Mädchen“ von Ulrich und Irmgard Speitel war der Defa im Jahr 1965 einfach zu frivol: Wegen sexueller Freizügigkeit werden drei junge Frauen zum LPG-Einsatz verurteilt. Ihre erotische Ausstrahlung gefährdet die Ehen einer ganzen Dorfbevölkerung, treibt jedoch gleichzeitig die sozialistische Arbeitsproduktivität in ungeahnte Höhen. Ostalgie-Stoff im besten Sinne, ein bisschen klamottig, aber witzig und farbenfroh (Lesung am 12.9.).

Jurek Becker und Frank Beyer wiederum zogen ihr Szenarium „Die Urwaldreise“, das sie noch während der Dreharbeiten zu dem einzigen jemals für einen Oscar nominierten Defa-Film „Jakob der Lügner“ (1975) entwickelten, sogar selbst zurück. Reizwort Reise – die Künstler empfanden ihr Thema als unangemessene Provokation ihres Publikums. Dabei ist die unterschwellige Botschaft des Szenariums alles andere als linientreu: Zwar findet die Expedition nur im Garten der Hauptfigur statt, letztlich aber finde sich hinter jeder Ecke ein Urwald, in den man aufbrechen kann, und damit ausbrechen aus Lebensplan und Langeweile.

Kurz vor der Wende änderte sich die Produktionspraxis. Unbequeme Projekte wie Thomas Knaufs „Die Architekten“ wurden „in die neue Zeit hinein“ auf den Weg gebracht. Nach der Wende wurden dann Stoffe realisiert, die aus politischen Gründen liegen geblieben waren. Das sei eine „Wiedergutmachung“ gewesen, sagt Jürschik. Seine Rolle in der Defa-Hierarchie will er nicht verklären – als Dissident hätte man nicht auf dem Chefdramaturgensitz gesessen. Er gibt sich überzeugt: „Jedes nicht realisierte – gute – Szenarium ist eins zu viel“. Und darum findet Jürschik die Reihe im Babylon „richtig gut“, auch als späte „Gerechtigkeit“ gegenüber den Künstlern.

Heute wird Jurek Beckers Szenarium „Die Urwaldreise“ vorgestellt, zu Gast: Christine Becker, Witwe des Autors. Café Voss, Rosa-Luxemburg-Str. 30, direkt neben dem Kino Babylon, 19.30 Uhr.

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