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Stanislas Nordey, Intendant des Pariser Théâtre de la Colline, spielt in der Adaption von Louis’ Kampfschrift.

© Jean-Louis Fernandez/Théâtre de la Colline

Édouard-Louis-Inszenierungen: Hinter den Masken

Sozialer Protest und theatrale Aktion: „Wer hat meinen Vater umgebracht“ von  Édouard Louis und andere neue Stücke auf Frankreichs Bühnen.

Es ist eines von mehreren Theaterereignissen, die Frankreich derzeit in Atem halten, mit Grenzgängen zwischen Film und Bühne, Gelbwestenprotest und theatraler Aktion: die Adaption von Édouard Louis’ autobiografischer Kampfschrift „Wer hat meinen Vater umgebracht“ im Pariser Théâtre National de la Colline.

Zwei Männer sitzen auf der großen leeren Bühne, der eine redet, der andere schweigt. Intendant Stanislas Nordey, der die Theaterfassung bei dem erst 26-jährigen Schriftsteller in Auftrag gegeben hat, spricht selbst den monologischen Text. Sein Gegenüber ist eine lebensgroße Silikonpuppe, der Adressat von Louis’ Kindheitserinnerungen. Es sind Erinnerungen an einen femininen Jungen in einer Arbeiterfamilie, Geschichten vom Unverständnis eines Vaters, der im Rollenbild des proletarischen Mannes gefangen ist. Louis zeichnet das Porträt eines Malochers, der einen Arbeitsunfall erlitt, von seiner Frau verlassen wurde und mit seiner Behinderung ein trostloses Dasein fristet.

Zeugnisse eines langen Schmerzensweges

Immer wieder wird die Bühne für Momente dunkel und wenn das Licht wieder angeht, steht, hockt, liegt eine weitere lebensgroße Vaterpuppe auf der Bühne, immer in Körperhaltungen der Qual: Zeugnisse eines langen Schmerzensweges.

Édouard Louis erzählt vom Leiden der Beherrschten als einem Leiden der Körper. Es geht ihm um ein „J’accuse“, das den abstrakten Klassenbegriff der soziologischen Debatte in das familiäre Erleben holt und die unmittelbare Wirkung des neoliberalen Sozialabbaus auf den kranken Körper des Vaters erkundet. Erst Chirac, dann Sarkozy, schließlich Hollande und Macron. Für Louis sind es politische Mörder. In seinem gut hundertminütigen Solo lässt Stanislas Nordey die Namen wie Peitschenhiebe knallen, es sind Theaterschläge gegen die Macht. Der Regisseur, Auftraggeber und Interpret von Louis’ Brandrede, ist von unübertrefflicher Schärfe und Klarheit, in Wort, Gestik und Bewegung.

Auf der Seite der Gelbwesten

Édouard Louis hatte sich als erster französischer Intellektueller klar auf die Seite der Gelbwesten gestellt. In einem Text für die Kulturzeitschrift „Les Inrockuptibles“ hatte er sie mit den verbrauchten Körpern und Gesichtern verglichen, die er aus seinem Heimatdorf kennt. Der Sohn spricht für den Vater, der junge Literat für all jene, die keine Stimme haben.

Die Realität der Gelbwestenproteste hat seinen Text inzwischen eingeholt. Das stumme Frankreich verschaffte sich selbst eine Stimme. Nach zuletzt schwindender Mobilisierung will es sich an diesem Samstag, dem Schlusstag der von Macron initiierten nationalen Debatte, noch einmal deutlich artikulieren, mit Demonstrationen in Paris und in der Provinz.

Mit dem TGV geht es in einer guten Stunde von Paris nach Angers, wo in einem der modernen Provinzkulturhäuser ein weiteres Theaterevent zu sehen ist, bevor es im Mai nach Paris kommt: John Cassavetes hatte 1977 in seinem Film „Opening Night“ eine Theater-im-Film-Geschichte um einen alkoholabhängigen Star erzählt. Der junge Theaterregisseur Cyril Teste holt diese fast dokumentarische Geschichte nun von der Leinwand auf die Bühne. Im Mittelpunkt steht eine Schauspielerin, die ihre Altern nicht akzeptieren kann.

Isabelle Adjanis verheultes Gesicht in Großaufnahme

Bei Cassavetes war es Gena Rowlands, jetzt spielt Isabelle Adjani diese Myrtle Gordon, eine Frau in der Krise. Während die Theaterkollegen Myrtle auffordern, ihr Altern zu akzeptieren, behauptet sie trotzig ihre Unabhängigkeit von der äußeren Zuschreibung, das individuelle Alterserleben gegen das soziale Alter. Keine Diva hat in Frankreich den Kampf gegen das Altern so erbittert geführt wie Adjani. Die 63-Jährige strahlt ewig jung von den Titelseiten der Illustrierten; in Angers findet sie nun den Mut, ihr geliftetes, verheultes Gesicht in Großaufnahme zu zeigen. Das Antlitz hinter der Maske, ein Bild für das zwangsläufige Scheitern des Traums von der ewigen Jugend.

Regisseur Teste, der das Nebeneinander von Schauspieler und schwarz-weißem Filmbild meisterlich beherrscht, hat die Geschichte von „Opening Night“ auf wenige Protagonisten reduziert. Er zeigt die Schlacke, die in der Kulisse bei der Herstellung von Theater anfällt, die Welt abseits der glanzvollen Auftritte. Cassavetes hatte auch Myrtles schauspielerische Eskapaden ausgekostet, mit denen sie die Kollegen an die Wand spielt. Bei Adjani ist das anders, der vielfach preisgekrönte Filmstar fremdelt auf der Bühne. Ihre Gestik wirkt summarisch, ihr Ausdruck konventionell.

Spiel mit nur mäßig unheimlicher Unschärfe

Vielleicht wird diese ewige Probe überzeugender sein, wenn sie im Mai im Théâtre des Bouffes du Nord gastiert, das durch Peter Brooks Arbeiten berühmt ist. Da zeigt man derzeit das frühe Harold-Pinter-Stück „La Collection“, ein etwas angestaubtes Rätselraten um weibliche Untreue, ein Spiel mit nur mäßig unheimlicher Unschärfe in der Wirklichkeitswahrnehmung. Aber auch hier sind mit Mathieu Amalric und Laurent Poitreneaux große Filmschauspieler zu sehen, in einem stylischen Salon, der dem morbiden Charme des Spielortes so gar nicht entspricht, eines Saals mit selten schöner Patina.

Kaum weniger charmant ist das Théâtre Déjazet, das ein reicher Anarchist in den 70er Jahren kaufte. Jean Bouquin war als Couturier berühmt geworden, stylte Brigitte Bardot, wurde reich und schmiss hin, als das Modeabenteuer zur Routine wurde. Als Theaterdirektor bot er Künstlern wie Coluche oder Léo Ferré eine Bühne. Heute überlässt er einem ehemaligen Intendanten die Programmplanung: Das Déjazet nahe der Place de la République belegt eine Tendenz im französischen Hauptstadttheater: die Auflösung der bisher klaren Grenze zwischen privaten und öffentlichen Bühnen. Auf dem Spielplan: Thomas Bernhards „Theatermacher“ mit Starschauspieler André Marcon, leider wenig mehr als die Selbstdarstellung eines eitlen Solisten.

Der Besuch lohnt trotzdem: Wer in den Saal des Déjazet will, erlebt eine kleine Zeitreise, wartet auf einer Couch im schmalen Seitenfoyer und hält Trinkgeld für eine Platzanweiserin bereit, die einen zum Platz führt. Errichtet hatte den Saal der Bruder des letzten Königs des Ancien Régime, Ludwig XVI. Traditionen und revolutionärer Umbruch liegen in Paris nahe beieinander.

Eberhard Spreng

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