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Kultur: Ehrenrettung für Lenin - Michael Gorbatschow begründet das Scheitern der Sowjetunion

Genau 15 Jahre ist es in diesen Tagen her, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wurde.

Genau 15 Jahre ist es in diesen Tagen her, dass Michail Sergejewitsch Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wurde. Das Ende ist bekannt: Trotz der außenpolitischen Erfolge und der von ihm eingeleiteten Beendigung des Wettrüstens musste der letzte Präsident der UdSSR Ende 1991 zurücktreten, denn die Union hatte sich mit der Gründung der GUS-Staaten zuvor aufgelöst. Gespannt durfte man jetzt also auf Gorbatschows Bestandsaufnahme sein, die er mit zeitlichem Abstand, fern der Macht und in Russland fast vergessen, vorlegt.

Die Analyse bemüht sich um differenzierte Sachlichkeit, auch wenn der Autor als ehemals politisch Verantwortlicher natürlich parteiisch ist. Die Darstellung reicht von der Oktoberrevolution 1917 bis zu Perestrojka und Glasnost. Zur Entfaltung einer historischen Perspektive für das 21. Jahrhundert fragt der ehemalige Generalsekretär nach den Ursachen für das Scheitern der Sowjetunion und ihrer Reformversuche. Dabei verteilt er bisweilen kräftige Seitenhiebe auf seinen Nachfolger Jelzin und dessen oligarchisch-autoritäres System.

Ein wenig überrascht jedoch Gorbatschows Einschätzung des eigentlichen Gründungsakts der 1922 entstandenen UdSSR. Anders als viele Wissenschaftler und Publizisten im Westen und vor allem im heutigen Russland hält er die Oktoberrevolution nach wie vor für gerechtfertigt. Gorbatschow verweist dabei auf die damaligen "extremen Klassengegensätze" und die Schwäche der Provisorischen Regierung. Dabei wird en passant auch eine Ehrenrettung Lenins vollzogen, den der Autor häufig als Autorität zitiert.

Den eigentlichen Sündenfall und Grund für das Scheitern der UdSSR sieht der Ex-Präsident dann im Aufbau eines totalitären Systems "im Laufe der dreißiger Jahre" unter Stalin. In dieser konservativ-sowjetischen Deutung sowie dem Lob der Alphabetisierung und (brutalen) Industrialisierung bleibt Gorbatschow dem alten Denken verhaftet - trotz aller von ihm geäußerten Kritik an Zwangsmaßnahmen, Unterdrückung demokratischer Prinzipien und Unterjochung von Völkern im Sowjetreich.

Zu den Höhepunkten des Buches gehört der Teil, der detailliert den Niedergang der Perestrojka im Aufruhr der Nationalitäten und nach dem August-Putsch 1991 schildert. Dabei liefert das Werk teilweise sehr persönliche Innenansichten der Macht: etwa Auszüge eines Sitzungsprotokolls der Politbürositzung vom 9. Juli 1987, auf der kontrovers die Frage der Rehabilitierung der unter Stalin zwangsumgesiedelten Krimtartaren besprochen wurde. Bedenkenswert ist schließlich auch Gorbatschows "Nachbemerkung", die sich kritisch mit dem Kosovo-Krieg der Nato und seiner mangelnden völkerrechtlichen Legitimation beschäftigt.Michail Gorbatschow: Über mein Land. Russlands Weg ins 21. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2000. 260 Seiten. 39,80 DM

Gerald Glaubitz

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