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Kultur: Ehrlich wählt am längsten

Anmerkungen zur Firma Deutschland: Das Volk ist der Arbeitgeber und hat noch Glück mit seinen leitenden Angestellten und Vertretern

Von Harald Martenstein

Viele Leute sind der dauernden Enthüllungen und Affären müde. Ist denn kein einziger Politiker sauber? Manche Leute sagen: Was soll’s. Wir mogeln doch alle mal. Warum sollen die Politiker bessere Menschen sein als unsereins? Weil jedes Herrschaftssystem – jedes! – auf dieser Idee beruht. Wer die Macht hat, ist Vorbild. Wer die Macht hat, gibt die Richtung vor, in die es läuft.

Die Idee der Demokratie beruht seit dem alten Athen darauf, dass sich ein Volk diejenigen zu seinen Repräsentanten wählt, die es für die Besten hält - die Tüchtigsten, die Klügsten, die Anständigsten. Naturgemäß halten sie den hohen Ansprüchen nicht immer stand. Aber wenn wir die moralischen Ansprüche an die Politiker senken, wenn wir von ihnen nicht mehr verlangen, dass sie eine bessere Figur machen als der Durchschnitt, dann sollten wir besser über einen Systemwechsel nachdenken. Wenn die Demokratie tatsächlich nicht mehr in der Lage ist, eine ehrliche und tüchtige Regierung zustande zu bringen, dann sollte man es vielleicht mal wieder mit einer Monarchie probieren. Oder mit dem Realen Sozialismus.

Aber so weit ist es noch lange nicht.

Was kann man tun? Eine besonders bizarre Idee geht so: Man muss die Politiker nur besser bezahlen, dann werden sie ehrlich. Lesen die Leute, die so etwas vorschlagen, keine Zeitung? Die Zeitungen sind zur Zeit voll mit Geschichten über betrügerische Spitzenmanager. Bilanzen werden gefälscht, Aktienpakete eingesackt. Von Spitzenverdienern! Es ist nämlich so: Wer 200 000 Euro im Jahr verdient, den lockt die Versuchung, 400 000 Euro zu verdienen. So sind wir Menschen nun mal.

Ehrlichkeit gehört zu den Dingen, die man für Geld nicht kaufen kann. Der Gedanke, dass sich unsere Volksvertreter an die Regeln halten, sobald wir ihnen die Bezüge verdreifacht haben, ist außerdem eine Ohrfeige für alle Kleinverdiener. Sind Kleinverdiener sowieso Halunken? Was kann man tun? Man muss nur auf den Chef aller Chefs vertrauen, auf den Souverän. Auf das Volk. Das Volk ist nämlich gar nicht so dumm. Das Volk ist, genau genommen, sogar großartig.

Der sonderbarste Bundestags-Wahlkampf aller Zeiten hat 1994 stattgefunden. Beide Parteien haben damals exakt den gleichen Kandidaten aufgestellt. Der Doppelkandidat war Pfälzer, ein gemütbetonter Heimatmensch, provozierend hölzern und schwerfällig. Er verstand keinen Spaß, er bewegte sich verkrampft, nein, dieser Mann war überhaupt nicht telegen. Und mit Spontaneität oder Selbstironie hatte er es auch nicht so. Der Kandidat stammte aus kleinen Verhältnissen. Der Kandidat hieß in der CDU-Version Helmut Kohl, in der SPD-Version Rudolf Scharping. Beide legten übrigens Wert auf die Feststellung, dass sie glücklich verheiratet seien, und benutzten ihre Familien im Wahlkampf.

Was wäre gewesen, wenn damals Scharping gewonnen hätte? Bei diesem Gedanken dürfte es heute sogar Sozialdemokraten kalt den Rücken hinunterlaufen. Nein, die Deutschen haben seit 1949 mit ihren Kanzlern im Großen und Ganzen Glück gehabt, die Wähler dürfen sich auf die Schulter klopfen. Die Kanzler haben das Land an den wichtigen Kreuzungen in die, wie sich hinterher herausstellte, richtige Richtung geführt – Adenauer in Richtung Westen, Brandt zur Versöhnung mit dem Osten, Kohl in die Wiedervereinigung. Man muss sich in Erinnerung rufen, wer uns alles als Bundeskanzler erspart geblieben ist: Der ichverliebte Tollpatsch Scharping. Der unberechenbare Affärenweltmeister Strauß. Der wankelmütige Barzel. Lafontaine, der seine Partei einfach so im Stich lässt. Na, ist auf die Weisheit des deutschen Wählervolkes Verlass oder nicht?

Das Sozial- und Wirtschaftssystem funktionierte ziemlich lange gut. Jetzt geht es genau darum: Das Sozial- und Wirtschaftsystem zu reformieren, weil es sich nicht mehr bezahlen lässt. Und das Land durch eine Wirtschaftskrise zu steuern, die womöglich eine Depression ist, vielleicht sogar eine Zeitenwende, vielleicht der Auftakt zu sieben mageren Jahren.

An dieser Stelle hat vor ein paar Tagen Bernd Ulrich geschrieben, die Deutschen bräuchten Führung, die Politiker seien zu ängstlich, das Land stehe an einem Abgrund an Führungslosigkeit, deswegen expandiere die Moral. Aber Führung und Moral hängen natürlich zusammen. Führung ohne Moral – das wäre wirklich ein Alptraum. Das wäre mindestens Berlusconi.

Keine Führung, die nicht Vorbild wäre. Ein Führer, der kein Vorbild ist, verliert seine Legitimation und wird, sofern er es nicht mit Hilfe von Terror verhindern kann, früher oder später nach Hause geschickt. Dieser Satz gilt immer und überall, aber ganz besonders gilt er jetzt. Wenn Renten gekürzt werden und Sozialleistungen, wenn Löhne sinken und Preise steigen, und wenn gleichzeitig die Politiker als freifliegende Gierhälse dastehen, die sich ihre eigenen Bezüge erhöhen, mit dem Hinweis, für ein einfaches, popliges Angestelltengehalt dürfe das Volk keine Ehrlichkeit von ihnen verlangen – was wird dann wohl passieren? Wenn das Volk so richtig sauer ist, veranstaltet es von Zeit zu Zeit eine Revolution. Die Politiker sind zu Recht ängstlich. Denn ihr Chef ist das Volk, und dieser Chef kann sehr ungemütlich werden, wenn man ihm auf der Nase herumtanzt.

„Führer" ist ein zweideutiges Wort, nicht nur auf deutsch. Sicher, es hat in der Geschichte immer wieder demokratische Führerfiguren gegeben, Leute, die mit der Kraft ihrer Persönlichkeit ihr Volk dazu brachten, etwas Außerordentliches zu tun. Sich zu versöhnen. Sich zu befreien. Einen verloren geglaubten Kampf weiterzuführen. Mandela, Gandhi, de Gaulle… Aber so schlimm, dass nur noch ein Mandela oder ein Gandhi uns retten könnte, steht es um Deutschland vermutlich nicht. Unsere Krise ist eher der demokratische Normalfall: viele verschleppte Reformen und zu wenig Geld.

In der Kultur, in der Religion, beim Starkult – überall suchen die Leute nach Überhöhung, nach jemandem oder nach etwas, das besser und strahlender ist als der Durchschnitt. Warum soll es verkehrt sein, auch in der Politik gewisse Ansprüche zu stellen? In den Medien werden andauernd alle möglichen Comebacks verkündet : Gute Umgangsformen sind angeblich wieder in, die Tanzschule, die 80er Jahre und so weiter. Warum nicht mal ein Comeback der Ehrlichkeit? Man vermisst sie wirklich.

Auf das Volk ist Verlass, keine Sorge. Gerhard Schröder zum Beispiel ist jetzt etwa genauso lange Kanzler wie Willy Brandt – die ganze Ära Brandt, das muss man sich mal vorstellen. Wenn er wiedergewählt wird, dann packt er entweder endlich die Probleme an, oder er wird von seinem Arbeitgeber endgültig in die Wüste geschickt. Denn auf geheimnisvolle Weise suchen sich in den Demokratien die Probleme fast immer ihren Problemlöser, nur in den Diktaturen bleibt das meiste auf ewig liegen.

Viele Leute sagen: Was haben die Politiker davon, dass sie ihren Job tun? Es ist doch ein Hundeleben: relativ wenig Geld, kaum Freizeit, dauernd unter Beobachtung. Kein Wunder, sagen diese Leute, dass viele Politiker den Versuchungen erliegen. Wir verlangen einfach zu viel von ihnen.

Darauf gibt es mindestens vier Antworten. Erstens: So wenig verdienen die Politiker nun auch wieder nicht. Und ihre Altersversorgung ist top. Zweitens: Wer in der Politik Karriere macht, hat die Chance, in die Geschichtsbücher zu kommen. Diese Perspektive bietet kaum ein anderer Beruf. Drittens: Man tut etwas für die Allgemeinheit, für das Land, für die Verbesserung der Welt. Ist das wirklich so ein irrer Gedanke? Krankenschwestern oder Feuerwehrleute denken doch auch so. Viertens: Wenn es einem Politiker nicht passt, dass er oder sie sich an die Regeln halten muss, kann er oder sie ja gehen. Bitte sehr! Geht ruhig mitsamt euren Bonusmeilen in die Wirtschaft, das Volk findet schon jemanden, der den Job macht. Dann wird eben Harald Schmidt Bundeskanzler. Das wäre sowieso das Beste.

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