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Kultur: Ein Amerikaner mit Videokamera auf Reise durch die DDR

Man stelle sich vor: Da kommt ein junger Regisseur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus, sagen wir: Polen, nach Berlin. Sein Land hat unter den deutschen Nazis furchtbar gelitten, in einem ist er als guter Katholik jedoch einer Meinung mit ihnen: Die Juden sind ganz schreckliche Leute, und man kann gar nicht genug auf sie eindreschen.

Man stelle sich vor: Da kommt ein junger Regisseur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus, sagen wir: Polen, nach Berlin. Sein Land hat unter den deutschen Nazis furchtbar gelitten, in einem ist er als guter Katholik jedoch einer Meinung mit ihnen: Die Juden sind ganz schreckliche Leute, und man kann gar nicht genug auf sie eindreschen. Folglich ist die Schlüsselfigur seines Berliner Films ein überlebender Jude, der mit Rauschgiftsüchtigen und Flittchen in einer adäquat dekadenten Villa haust, Nietzsche falsch verstanden hat und die Nazi-Ideologie nun einem anämischen Jungen einimpft, den er nebenbei noch etwas befummelt. Den Streifen, der daraus entstünde, würde man fünfzig Jahre später für zumindest etwas problematisch halten. Heißt der Regisseur jedoch Roberto Rossellini, und handelt es sich bei der denunzierten Gruppe um die Homosexuellen, dann gilt ein Film wie Deutschland im Jahre Null noch heute als Meisterwerk des Neorealismus. Wie sehr dieser Streifen aber nicht nur gegenüber anderen "Trümmerfilmen"abfällt, sondern selbst innerhalb Rossellinis Gesamtschaffen, davon kann man sich in den nächsten Wochen im Babylon-Mitte überzeugen: Bis Mitte Oktober bietet das Filmkunsthaus eine umfassende Werkschau des zeitweiligen Ingrid-Bergman-Gatten, in deren Rahmen heute und morgen sein Berlin-Film läuft.

Dagegen ist sogar noch die radikal einfache Art zu bevorzugen, mit der sich Bill Meyers daran machte, Zeitgeschichte festzuhalten: Mitte der achtziger Jahre interviewte der Amerikaner bei Reisen in die DDR Ostdeutsche vor der Videokamera. Seit einiger Zeit zeigt die Brotfabrik diese Produkte einer privaten Entspannungspolitik. Am Sonntag unter dem Titel The Bill-Meyers-Tapes 5 zu sehen: Gespräche mit Bewohnern eines Zeltlagers, das die FDJ in Berlin für den Arbeitseinsatz von Studenten unterhielt, und mit Maurerlehrlingen und ihren Ausbildern auf einem "Jugendobjekt" in Prenzlauer Berg. Besonders interessant ist dabei zu rätseln, wie weit die offiziellen Parolen nur nachgebetet oder wirklich geglaubt werden, sei es von der "Beseitigung der Wohnungsnot bis 1990" über "die zahlreichen Friedensinitiativen unserer Regierung an der Seite der SU" bis hin zu den tollen Reisemöglichkeiten oder der Forderung, der Westen solle sich doch mal dem ökonomischen Wettbewerb mit dem blühenden Ostblock stellen.

Jan Gympel

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