zum Hauptinhalt
Digital ist besser. Aber auch ein Arbeitsplatzkiller. Weil Filme künftig aus zentralen Rechnerzentren in Kinosäle übertragen werden, bedarf es des Vorführers – hier im Berliner Cinestar-Kino – nicht mehr. Foto: Keystone

© Jochen Zick / Keystone

Ein Beruf stirbt aus: Wie die Digitalisierung das Kino verändert

Langsam wird er überflüssig. 16 Jahre ist Christoph Mertenz schon Filmvorführer. Doch inzwischen hat die digitale Revolution das Kino verändert. Auch auf der Berlinale werden die Bilder vom Computer gesteuert. Ein Beruf stirbt aus.

Der Filmvorführer hat kurz Zeit. Er sitzt im Untergeschoss des Cinestar-Kinos am Potsdamer Platz auf der vordersten Kante seines Stuhls, die Hände auf den Tisch gelegt, als müsste er gleich wieder weg. Christoph Mertenz* schaut auf die Uhr, das Handy hat er immer griffbereit. Es ist die Ungeduld eines Mannes, der den Anschluss nicht verpassen darf. Er muss zurück in den Projektorraum. Die illusion mag keine Störung. „Das Timing ist wichtig.“, sagt er, und es klingt auch ein bisschen stolz. Er muss von einem Saal in den nächsten. Die Filme im rechten Moment starten. Das bleibt ihm noch überlassen, denn eigentlich wird er nicht mehr gebraucht. Sein ganzer Berufsstand wird nicht mehr gebraucht.

Wenn er jetzt aufstünde, würde er den Vorführraum durch eine Hintertür betreten, dort stünden noch immer die alten Projektoren und daneben die neueren digitalen. Sie unter- scheiden sich kaum. Da, wo früher nur der Schneidetisch stand, ist heute auch ein Server aufgebaut. Statt des Ratterns der Filmrolle hört man nur noch leises Surren. Mertenz hätte nichts weiter zu tun, als an diesem Rechner die „Play“-Taste zu drücken. Einen letzten Blick zur Kontrolle durch das Fenster auf die Leinwand kann er sich sparen.

38 Jahre ist Christoph Mertenz alt. Und wäre er nicht so groß, würde alles an ihm ihn unscheinbar wirken lassen. Da ist die Brille mit dünnem Rand, auch ein paar Tage vor Beginn der Berlinale, die auch in diesem Kino stattfinden wird, trägt er nicht die Mitarbeiter-Uniform, die seine Kollegen anhaben müssen. Nur Jeans und Poloshirt. Den Kinozuschauern hier muss er nicht auffallen. Er macht seinen Job am besten, wenn niemand bemerkt, dass er arbeitet. Nun könnte er ganz verschwinden.

Erstmals in der Berlinale-Geschichte werden Filme fast ausschließlich als digitale Datenpakete verschickt. Es ist ein unaufhaltsamer Trend. Noch 2005 hatte der Leiter der Berlinale, Dieter Kosslick, gesagt: „Ohne Vorführer läuft kein Film.“ Jetzt sind nach Angaben der Filmförderanstalt (FFA) bereits über 3000 der insgesamt 4640 Kinosäle in der ganzen Bundesrepublik auf digitale Projektion umgestellt. Fünf Jahre lang wollte die FFA diese Umstellung mit 60 Millionen Euro fördern. Drei Jahre früher als geplant, sind schon alle Gelder abgerufen. Das Medienboard Berlin-Brandenburg geht sogar davon aus, dass in der Hauptstadt bis Ende 2013 sämtliche Kinos digitalisiert sein werden. Trotz Umbaukosten von bis zu 100 000 Euro pro Saal.

Mertenz konnte Filme noch anfassen. Mit „Titanic“ fing es bei ihm an. 1997 war das. Dann die neuen „Star Wars“-Episoden, mit Oscars ausgezeichnete Werke wie „Million Dollar Baby“. Christoph Mertenz hatte sie alle in der Hand. Filmrollen von fast einem Meter Durchmesser, verpackt in riesigen runden Blechboxen, etliche Kilo schwer. Filmgeschichte gebannt auf 35 Millimeter breites Polyethylenterephthalat. Wie viele davon hat er durch das Haus gewuchtet. Er war Handwerker. So sieht er sich selbst.

Mit seinem Schneidwerkzeug trennte er das Startband vom Hauptfilm ab. Ein 100-Minutenfilm bestand aus fünf Rollen, die er in der Klebepresse zusammenfügen musste, die auf dem Umspultisch für die Vorführung neu abgewickelt und schließlich in den Projektor eingehängt wurden. Mertenz, der Handwerker, der sich im Kleinen wie ein Künstler fühlen konnte. Wie einer der Filme schneidet.

Er zeigt auf den Nagel seines Daumens. „So groß sind die Bilder auf der Filmrolle“, sagt er. Es ist fast nichts zu erkennen. Mertenz hat trotzdem gelernt, die kleinen Laufstreifen zu erkennen, nur einen Bruchteil eines Millimeters groß, die sich manchmal in die Rollen einprägen. Im Saal sehen die Zuschauer dann einen grünen Streifen, der sich vertikal durch das ganze Bild zieht und der fast jeden Kinogänger schon einmal gestört hat. Daran merken sie, dass der Vorführer nicht aufmerksam genug war. Wenn Mertenz jetzt mal nicht mehr aufpasst, merkt es niemand. Alles geht automatisch.

Früher war der Job des Vorführers ein Ausbildungsberuf mit Zertifikat

Digital ist besser. Aber auch ein Arbeitsplatzkiller. Weil Filme künftig aus zentralen Rechnerzentren in Kinosäle übertragen werden, bedarf es des Vorführers – hier im Berliner Cinestar-Kino – nicht mehr. Foto: Keystone
Digital ist besser. Aber auch ein Arbeitsplatzkiller. Weil Filme künftig aus zentralen Rechnerzentren in Kinosäle übertragen werden, bedarf es des Vorführers – hier im Berliner Cinestar-Kino – nicht mehr. Foto: Keystone

© Jochen Zick / Keystone

Er muss lächeln, wenn er an die Anforderungen seiner neuen Aufgabe im digitalisierten Kino denkt: „Es ist natürlich eine Umstellung“, sagt er. Schwer sei das nicht. Aber es ist ein heikles Thema. Die Zukunft des Kinos betrifft Arbeitsplätze, den Hausfrieden. Vielleicht deshalb setzt sich jetzt auch Thorben Kasch an den Tisch. Der 39-Jährige war früher selbst Vorführer. Heute ist er Theaterleiter und Mertenz‘ Chef. „Ich könnten Ihnen die Technik jetzt zeigen, und in 20 Minuten könnten Sie selbst eine Vorführung starten“, sagt er. Die Reihenfolge der Dateien festlegen, Werbung, Trailer, Hauptfilm. Der Klick am Computer: Play. Der Job des Vorführers, der bis zur Wende sogar ein Ausbildungsberuf mit Zertifikat in Ostdeutschland war, kann dank Digitalisierung vom Kartenabreißer übernommen werden.

Mertenz ist trotzdem zuversichtlich. Der Job entwickle sich eben vom Handwerk zur Datenlogistik, sagt er und sichert sich mit einem kurzen Blick bei seinem Chef ab. Es ist die offizielle Politik des Unternehmens. Cinestar-Geschäftsführer Stephan Lehmann lässt über seine Pressestelle ausrichten, durch die neue technische Entwicklung sei der Beruf des Vorführers sogar „zukunftsfähiger denn je“.

Licht an, Licht aus. Vorhang auf, Vorhang zu. Das ist sein Job auf der Berlinale. Auch das ließe sich bereits automatisieren. Aber so weit ist die Berlinale noch nicht. Viele Regisseure sehen ihre Werke auf dem Festival zum ersten Mal auf einer großen Leinwand. Geht etwas schief, wollen sie einen Ansprechpartner. Ein Gegenüber, das ihre Beschwerden entgegennimmt. Das macht Mertenz. Helfen kann er nicht. Er kann nur eine Nummer wählen.

Am anderen Ende klingelt das iPhone von Ove Sander. Wie es eigentlich immer klingelt, seit das Festival in Vorbereitung ist. Er trägt einen blauen Pullover und Achttagebart. Er nimmt kurz ab und murmelt etwas in den Hörer. Seine braunen Haare wehen im eiskalten Wind einer riesigen Klimaanlage, die die Server in diesem Raum herunter kühlen muss. Sanders ist Technical Manager Digital Cinema bei der Berlinale. Nicht ohne Stolz zeigt er auf das Herzstück des gesamten Festivals. Eine Art Maschinenraum. Es ist das frühere Filmlager in der Voxstraße. Nun vollgestopft mit Rechnern, zahllosen Kabeln, und auf Bildschirmen von der Größe einer DVD-Hülle flackern die Bilder der Wettbewerbsfilme. Es ist wohl der Ort, der am weitesten vom Glamour des Festivals entfernt ist.

Doch von hier, dem „Film-Office“, aus werden per Datenkabel die Filme in die großen Kinos der Berlinale übertragen. Dafür hat die Berlinale ein eigenes kleines Internet aufgebaut. Leitungen wurden verlegt und etwa 20 der 50 Berlinalekinos an dieses Netz angeschlossen. Im nächsten Jahr sollen es endgültig alle sein. Insgesamt 35 Gigabyte pro Sekunde schaffen die Leitungen.

„Anfangs haben wir versucht, beim Festival die Logistik von früher aufrechtzuerhalten.“, sagt Sander und schaut einer Mitarbeiterin über die Schulter, die gerade einen neuen Film in das System einspeist. Aber fast alle Produktionsfirmen würden ihre Filme nur noch digital herausbringen. Statt 35-Millimeter Filmrollen liefern sie Festplatten an, etwa 100 Gigabyte Speicher belegt ein einziger Film. Die Berlinale musste umdenken.

Die Schlüsselmeisterin wacht über 100 000 Dekodierungsdateien

Ove Sander kann die Berlinale vom Film-Office fernsteuern.
Ove Sander kann die Berlinale vom Film-Office fernsteuern.

© Thilo Rückeis

Seit zehn Jahren ist Sander bei der Berlinale. Er kam direkt von der Filmhochschule in Köln, wo er zum Kameramann ausgebildet worden war. Sander lernte es zunächst nicht anders kennen, als dass Filmrollen in den hektischen Tagen des Festivals von Lieferanten zwischen den Kinos hin und her gefahren wurden. Im letzten Jahr dann fuhren die Boten schlicht die Festplatten aus. Ein logistischer Albtraum sei das gewesen, sagt Sander. „Anders als Filmrollen sind die nicht gleich einsatzbereit.“ Eine halbe Stunde dauert es, die Filme auf die Server des jeweiligen Kinos zu überspielen. Angesichts von 1300 Vorführungen ein enormer Zeitverlust. Aus dieser Not heraus wurde in diesem Jahr zum ersten Mal die Idee eines zentralen Verteilersystems umgesetzt.

„In vielen Bereichen erschwert uns die Digitalisierung die Arbeit“, sagt Sander. Alle großen Festivals hätten damit zu kämpfen. Um das zu demonstrieren, führt Sander jetzt eine Wendeltreppe hinab, in einem Großraumbüro weitere Mitarbeiter. In der Ecke unter der Treppe liegen aufgetürmt noch einige 35er-Rollen. In der Retro-Reihe der Berlinale werden sie noch gebraucht. Sie sind Sanders geringste Sorge. Er steuert auf Anja zu. Sie ist die Schlüsselmeisterin. Jemanden wie sie brauchte es vorher nicht.

Anja ist Herrin über fast 100 000 Dekodierungsdateien. Jeder digitale Film braucht gleich dutzende davon, zur Sicherheit. Die Festplatten sind verschlüsselt, aus Angst vor Piraterie – davor, dass die Filme noch vor der Premiere kostenlos im Netz landen. Jede Vorführzeit, jeder Projektor, jeder Kinosaal braucht eine eigene Entschlüsselungsdatei. Verschiebt sich eine Vorführung weil eine Podiumsdiskussion zu lange dauert, wird der Zugriff ungültig. „Das sind die Probleme, die wir jetzt haben“, sagt Sander.

Aber dafür kann er Probleme nun auch selbst lösen. Sander kann an seinem Computer genau sehen, was der Vorführer im Saal sieht, kann Fehler erkennen, technische Schwierigkeiten aus der Ferne beheben. Ob er den Film auch direkt von hier aus starten könnte? „Natürlich.“ Sanders lächelt milde. „Aber dafür habe ich zu viel Respekt vor dem Beruf des Vorführers.“ Die großen Kinoketten sind bereits weiter.

Seit der Erfindung des Kinos 1893 hat der Beruf des Vorführers alle technischen Neuerungen überdauert. Ihn komplett überflüssig zu machen, dauerte nicht einmal drei Jahre. Cinemaxx, einer der großen Betreiber im Geschäft, hat begonnen seine über 30 Häuser in Deutschland mit Datenkabel von der Firmenzentrale in Hamburg aus zu steuern. Heute stehen deswegen bei Cinemaxx die Jobs von etwa 130 Vorführern auf dem Spiel. Erste Kündigungen wurden bereits ausgesprochen. Verdi schätzt, dass mittelfristig hunderte weitere Stellen in allen Kinos wegfallen.

Christoph Mertenz sieht das überraschend gelassen. „Ich trauere den analogen Filmen nicht besonders nach.“ Er verabschiedet sich eilig und läuft wieder zu seinem Projektor. Bei der Berlinale hat er viel zu tun. Ove Sander kann das an seinem Bildschirm überwachen. Noch greift er nicht ein. Nicht, solange Mertenz seinen Job hat.

* In einer früheren Version dieses Artikels wurde der Klarname des Filmvorführers genannt. Trotz vorheriger schriftlicher Autorisierung aller Zitate bat Cinestar aus Rücksicht auf "die persönliche Interesselage" des Mitarbeiters darum, den Namen zu streichen. Wir haben ihn durch ein Pseudonym ersetzt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false