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Kultur: Ein Demokrat als Herr der Töne

Nach einer langen Beziehung sucht man sich meist einen Partner, der genau die Stärken und Schwächen besitzt, die man bislang vermißt hat. Orchester reagieren da nicht anders als Individuen.

Nach einer langen Beziehung sucht man sich meist einen Partner, der genau die Stärken und Schwächen besitzt, die man bislang vermißt hat. Orchester reagieren da nicht anders als Individuen. Die Berliner Philharmoniker haben in ihrer 117jährigen Geschichte bei jedem ihrer sechs Chefdirigenten einen solchen Richtungswechsel vollzogen und sich, ob in Urabstimmung oder durch die Vermittlung eines Intendanten, jedesmal für einen Kandidaten entschieden, der ein Versprechen für die Zukunft und eine Abkehr vom eingeschliffenen Traditionskurs verkörperte. Das galt bei der Berufung Herbert von Karajans, der für die Abkehr von furtwänglerischem Pathos hin zu klanglicher Brillanz und spieltechnischer Virtuosität stand, genauso wie bei der überraschenden Wahl Claudio Abbados, der dem verselbständigten Oberflächenkult seine intellektuellen, von der Moderne her diktierte Programme entgegensetzte.

Auch diesmal hat das Orchester das Vertrauen in seine fast archaisch anmutende basisdemokratische Entscheidungsfindung wieder bestätigt und sich mit der Wahl von Simon Rattle für einen künstlerischen Neuanfang nach dem Auslaufen der Ära Abbado im Jahr 2002 entschieden. Und das, obwohl es gerade dieser Kandidat ihnen nicht leicht gemacht hatte: Bereits weit im Vorfeld der Entscheidung, im April vergangenen Jahres, hatte Sir Simon unmißverständlich klargemacht, daß es nicht einfach werden würde mit ihm. "Die Berliner Philharmoniker sollen erst einmal darüber nachdenken, wo sie stehen, um dann zu entscheiden, ob sie in erster Linie eine künstlerische Institution oder eine Medieninstitution sein möchten", lautete Rattles Botschaft damals.

Klare Worte, wie man sie sonst nicht von Leuten hört, die sich um prestigeträchtige Posten bewerben. Worte, die aber auch deutlich machen, daß Rattle aus einer Position der Stärke heraus zu den Philharmonikern kommt. Kein Dirigent ist derzeit so begehrt wie der Vierundvierzigjährige aus Liverpool; dabei hat er nichts von einem divenhaften Herrscher am Pult, eher ist er, sypathisch offen, ein Demokrat als Herr der Töne. Viele der großen Orchester, von Boston über Philadelphia bis Los Angeles haben in den letzten Jahren versucht, ihn als Chefdirigenten zu gewinnen, die New Yorker Metropolitan Opera und Londons Covent Garden haben trotz Rattles vergleichsweise schmalen Opernrepertoire intensiv um ihn geworben.

Und das, obwohl Rattles Programmgestaltungen eigentlich überall traditionelle Erwartungshaltungen enttäuschen dürften. Ihn interessieren gerade die Partituren, die andere wegwerfen würden, behauptet er in provokativer Zuspitzung. Auch wenn man das nicht völlig ernst nehmen muß - schließlich gilt Sir Simon zum Beispiel als hervorragender Beethoven- und Mahlerinterpret - ist diese Äußerung nicht nur als Vorabsicherung der künstlerischen Handlungsfreiheit gemeint, sondern kennzeichnet zugleich die Offenheit, mit der Rattle die eingespielten Werkhierarchien des Repertoirealltages in Frage stellt. Trotzdem hat Rattle bislang nicht das (bei Engländern vielleicht besonders naheliegende) Etikett des Exzentrikers aufgedrückt bekommen, seine Parteinahmen für seltene Haydn-Sinfonien oder den französischen Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau wirkten nie als bloß persönliche Vorlieben, sondern konnten durch ihre musikalische Überzeugungskraft die Urteile des Musikbusiness stets als Vorurteile entlarven.

Die Berufung Rattles ist von daher nicht nur eine Entscheidung für einen Dirigenten und für Werke, die bis heute vielleicht noch nie auf den Philharmoniker-Pulten lagen, sondern auch eine Entscheidung für ein Publikum, das willens ist, diesen Weg der Neugier und fortwährender Auseinandersetzung mit seinem Orchester zu gehen. Bereits heute ist absehbar, daß dieser Prozeß nicht ohne Irriationen ablaufen wird, daß Widerstände bei Orchestermusikern zu überwinden sind, die sich auf einmal mit barockem Violinspiel auseinandersetzen sollen, beim Publikum, das statt Richard Strauss und Anton Bruckner plötzlich Sinfonien des polnischen Impressionisten Karol Szymanowski und zeitgenössische britische Komponisten vorgesetzt bekommt.

Dennoch, daß sich so wieder Leben in die weithin zum Museumsdienst erstarrte Klassik-Kultur bringen läßt, hat Rattle längst bewiesen - sein Ruf als ein Dirigent des kommenden Jahrhunderts liegt zum Gutteil darin begründet, daß er aus einem unauffälligen britischen Mittelklasse-Orchester eine Formation mit weltweiter Ausstrahlung schmiedete. Denn als der 26jährige Youngster 1981 als Chefdirigent an das City of Birmingham Orchestra berufen wurde, hätte sich niemand träumen lassen, daß die heruntergekommene Industriestadt in Mittelengland je zu einer Kulturmetropole werden würde. Doch spätestens als Birimingham seinem Orchesterchef 1991 ein Denkmal in Gestalt einer der größten und gelungensten Konzerthallen Europas setzte, wurde man auch außerhalb Großbritanniens darauf aufmerksam, daß das Phänomen Rattle mehr als nur einige gelungene Konzerte bedeutete. Denn selbst bei Serien wie seiner Konzertreihe "Towards the Millennium", die ausschließlich Werken des zwanzigsten Jahrhunderts aufgeführt wurden, drängelten sich die Hörwilligen - Resultat einer Aufbauarbeit, die den Dirigenten und seine Musiker nach amerikanischem Vorbild nicht nur auf das Konzertpodium, sondern auch in Schulen und Fernsehstudiosbrachte.

Seinem Orchester blieb Rattle fast zwanzig Jahre treu, auch um möglichst oft bei seiner Frau und seinen zwei Kindern sein zu können, wie er selbst immer wieder betonte. Außerdem sei der intensive künstlerische Kontakt zwischen einem Dirigenten und seinem ständigen Orchester für ihn die Voraussetzung für künstlerische Fortschritte - Gastdirigate dienten lediglich der Imagepflege. Ein Beleg für diese künstlerische Beharrlichkeit ist auch, daß der größte Teil von Rattles über fünfzig CD-Aufnahmen mit "seinem" Orchester entstanden ist und nicht mit den Spitzenorchestern, denen er, wie den Berliner Philharmonikern seit 1987, durch regelmäßige Gastdirigate verbunden ist. Bislang sind in dieser Einspielungsliste die herkömmlichen Klassik-Hits kaum vertreten - im Umgang mit dem Kernrepertoire läßt sich Rattle Zeit, auch das unterscheidet ihn von vielen Pultstars, die unermüdlich eine Gesamtaufnahme nach der anderen produzieren.

tivitäten und Tantiemeneinnahmen in den letzten Jahren erheblich gesunken sind, ist das freilich ein Glück: Für Mozart, Brahms und Beethoven ist Rattle noch frei, die medienträchtige Traumkombination Rattle plus Philharmoniker dürfte dem Orchester auf dem CD-Markt eine ähnlich dominierende Position wie zu den Hochzeiten der Karajan-Ära verschaffen.

Die Entscheidung für Sir Simon ist somit nicht nur vom Wagemut und Innovationswillen des in den letzten Jahren erheblich verjüngten Musikerkollektivs geprägt, sie ist auch aus ökonomischer Sicht eine kluge Wahl. Mit Rattle an der Spitze werden die Philharmoniker zugleich einem größeren, jüngeren Publikum vermitteln können, daß es in der klassischen Musik noch viel zu entdecken gibt, daß die zweihundert Jahre alten Noten nicht totes Material sind, sondern daß sie sich mit ihren Zuhörern verändern und verschiedenen Generationen unterschiedliche Antworten geben können.

Die Berliner Philharmoniker haben nicht nur einen neuen Chefdirigenten gewählt, sie haben sich auch für das Vertrauen in die Zukunft entschieden. Könnte es eine glücklichere Entscheidung geben?

Glückwünsche für Rattle zur Wahl als neuer Chefdirigent

Kurz nach der Entscheidung des Philharmonischen Orchesters für Simon Rattle als neuen Künstlerischen Leiter gab es gestern bereits die ersten Reaktionen. Claudio Abbado, dessen Nachfolge der 44jährige britische Dirigent 2002 antritt, begrüßte die Entscheidung. Mit der Wahl von Simon Rattle werde die Weiterentwicklung seiner künstlerischen Vorstellungen sichergestellt, erklärte er. Daniel Barenboim, künstlerischer Leiter der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, der gleichfalls als Nachfolger im Gespräch war, reagierte umgehend. "Ich wünsche allen Beteiligten viel Glück", erklärte er knapp.

Berlins Kultursenator Peter Radunski zeigte sich erfreut über die Entscheidung des Orchesters. Es sei vereinbart worden, umgehende Vertragsgespräche mit Simon Rattle aufzunehmen und darüber "einstweilen Stillschweigen zu wahren". Tsp

JÖRG KÖNIGSDORF

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