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Kultur: Ein Geräusch namens Zufall

Paare und Passanten am Savignyplatz: eine diagonale Geschichte zur Weihnachtszeit.

Nachts ums Dach wilde Sterne.

Johannes Schenk

Ein Abend im Dezember, für Berliner Verhältnisse lag sauberer Schnee. Tags zuvor gefallen, war er noch nicht zu Brei zerfahren und aufgehäuft. Vera hatte hier zu tun gehabt und die Rückfahrt für den kommenden Morgen gebucht. Sie beabsichtigte nicht, den Abend allein zu verbringen, wollte durchaus ihren persönlichen Tagesausklang verschönern nach der Konferenz, zu der sie einen gewohnt ernsthaften Part beigetragen hatte.

Auf dem Podium war sie nur auf enttäuschende, eigentlich gar keine Gesprächspartner getroffen. Aus dem S-Bahnhof Savignyplatz tretend, schaute sie kurz in die Architekturgalerie neben dem Ausgang, genoss die sachlichen Linien der sparsamen Präsentation. Die berühmte Buchhandlung ein paar Schritte zum Platz hin war leider schon geschlossen. Schaufenster für Schaufenster lockten Kunstbände, Bücher zur Filmgeschichte, zur Architektur und erlesene Kalender. Da wäre bestimmt noch ein Weihnachtsgeschenk zu finden gewesen.

Sie steuerte das französische Restaurant an, das sie von einem früheren Besuch her kannte. Nun saß sie hier in einer Nische mit Ausblick, neben dem Klavier, das zum Glück nicht besetzt war. Damals hatte eine Frau sich zu eigenen Chansons begleitet, Anschlag und Getue hatte Vera etwas aufdringlich gefunden. Nach dem Essen, vegetarisch mit einem feinen Gemüse, holte sie ihre Papiere aus der Tasche, las dann aber lieber in dem Buch, das sie früh am Bahnhof gekauft hatte.

Immer wieder musste sie nach dem Paar hinüberschauen, das zwei Tische entfernt am Fenster saß; der Frau mit den blonden Haaren in einem Kleid mit appliziertem Schnickschnack gegenüber ein grauhaariger Mann im edlen, fliederfarbenen Hemd unter dem Sakko. Die Frau machte Vera nervös mit ihren aggressiven Handbewegungen, die bis zu ihr herüber in die Buchseiten stachen. Aufschauend traf sie mehrmals auf ein diskret beschwichtigendes Lächeln des Mannes. Nachdem die Blonde abrupt aufgestanden, klirrende Gläser und das Restaurant hinter sich gelassen hatte, führte der Mann ruhig seinen Rotwein zum Mund. Kurz schloss er die Augen und hing dem Geschmack nach. Vera sah ihm dabei zu. Er schaute sie danach an. Sie lächelten. Es stellte sich heraus, dass die Rebsorte im Glas vor ihr dieselbe war. Nach seiner höflichen Vorstellung ließen sie sich gemeinsam eine Flasche davon bringen.

Zur selben Zeit saß Carl am diagonal gegenüberliegenden Ende des Platzes an einem Holztisch in dem Lokal, das hier sein liebstes war. Vor dem großen Fenster, in dem der Hauskater auf einer Decke lag, fing es eben zu schneien an. Er war mit einer alten Freundin verabredet. Sie sahen sich selten, obwohl sie keine halbe U-Bahn-Stunde voneinander entfernt wohnten. Eben rauschte sie herein mit einem beachtlichen Seufzer, mit ihrem charakteristischen Ich-bin-überlastet-also-entspanne-du-dich-mal-Ächzen, bestellte ein Bier, schaute forschend und fragte ihr Gegenüber durchaus ernst, wie es ihm ginge. Carl seufzte seinerseits.

So war es, wenn sie sich trafen, das eine Mal im Jahr. Bei ihr war alles wie immer, behauptete sie, ob des Stresses der mobilen Berufsausübung. Bei ihm, fand sie, ging es spannender zu. Sie meinte damit seine wechselnden Frauengeschichten, die jeweils neue, frische, sich gut anlassende, ewige Liebe. Sie wollte nichts anderes hören.

Brav berichtete er also von der aktuellen Melange aus Reizen und Bauchschmerzen – eine Apothekerweisheit, dachte er bei sich. Die Erwählte lebte in der und der weit entfernten Stadt, sie hatte die und die Geschichte, er wäre drauf und dran, ihr da und darin, wie es seine Art war, beizuspringen. Die Freundin schaute besorgt, wie seit Jahren jedes Mal, wenn wieder alles neu war bei Carl. Sie bestellte für beide Schnaps zum zweiten Bier. Der Kater, dunkel mit dunklen Streifen, schlief reglos an ihrer Seite.

Nach einigem Tratsch und Andeutungen über aktuelle Projekte, die sie in professioneller wie abergläubischer Scheu nicht weiter ausbauten, legten sie beim dritten Bier eine Pause ein in Betrachtung des draußen rieselnden Schnees und der Wände drinnen. Was war seit dem letzten Mal neu an der Ordnung der Plakate, Fotos, Bilder? Rasch landeten sie bei Nachforschungen über diejenigen, die vor einem halben Leben hier mit ihnen gesessen hatten.

Die Insel Westberlin war noch Insel gewesen, und der Savignyplatz einer ihrer Glutkerne, wo sie damals via Schwarzes Café, Hegel, Diener, Terzo Mondo, Jahrmarkt, Cour Carrée, Café Savigny und Dicke Wirtin immer wieder hier landeten. Von Erinnerungen satt, schauten sie einander über dem vierten oder fünften Bier einmal mehr in die Augen und vertagten sich zum Essen ans entgegengesetzte Ende des Platzes.

Während sie auf ihrem Weg das französische Restaurant passierten, war die Flasche zwischen den frisch Bekannten dort drinnen bis auf ein Achtel geleert. Der Mann verteilte es formvollendet auf die zwei Gläser. Nach heiteren Präliminarien hatten Vera und er eine Reise durch die französische Literatur begonnen, die, wie sich ergab, beide interessierte. Während sie Baudelaires Gedichte nicht im Original kannte, stand er Houellebecq kritisch gegenüber. Er steuerte Sequenzen aus Valérys Essays bei, sie die erste Begegnung von Bouvard und Pécuchet auf der Parkbank. Ihre Begeisterung für ein Bühnenstück von Sartre nebst Fußnoten zu dessen wirklichem Leben steigerte er mit Bataille, der zwar nicht zu Aperçus tauge, doch hier, an dieser Stelle, ausnahmsweise. Lange war es bei einverständigem Lächeln geblieben, nun lachten sie herzhaft. Es ergab sich, dass seine Richtung die ihres Hotels war. Stilvoll geleitete der Herr die Dame bis vor das hell erleuchtete Portal. Eine kleine Irritation, die sie verursachte, brachte ihn dazu, sie in den Fahrstuhl und bis vor ihr Zimmer zu bringen. Eine synchrone, nicht ganz eindeutige Geste von beiden führte zum gemeinsamen Betreten desselben. Am Morgen darauf stand beim Hotelfrühstück seine Visitenkarte vor ihr, angelehnt an die Untertasse. Der Zug fuhr zeitig. Sie erreichte pünktlich ihr Büro.

Stopp! Hier irrt der Erzähler, der die raschen Schlüsse liebt.

Das Freundespaar hatte am Abend in dem zweiten Lokal Bouletten geordert, mit Korn deren Verdauung befördert und war kurz darauf Richtung Neukölln unterwegs. Dort kam es in einer Kneipe zu Tangoschritten, doch deutlich besser gelang das Beschwören der plötzlich gemeinsam gesehenen Zukunft. Mit einer Flasche Schnaps aus dem Shop der nahen Automatenwäsche schwenkten sie in ihre Straße ein. In der ausgekühlten Wohnung wärmten sie sich daran und an den Details des gemeinsamen Lebens, das sie erträumten, zu dem sie sich längst hätten verstehen sollen. Von dem Schnaps war am nächsten Tag noch einiges übrig. Sie frühstückten gut gelaunt in ihrer Küche, und er verabschiedete sich, ohne das gemeinsame Vorhaben noch einmal zu erwähnen.

Stopp! Hier irrt der Erzähler zum zweiten Mal.

In Wirklichkeit kamen Carl und seine beste Freundin an dem französischen Restaurant vorbei, als Vera und ihr Gesprächspartner es gerade verließen. Ein Geräusch, das man Zufall nennt, lenkte beide Paare, eingehakt wegen der Schneeglätte, in Richtung der erwähnten Buchhandlung. Das dem Filmwesen gewidmete Schaufenster verführte sie unabhängig voneinander zur Betrachtung des Schwarz-Weiß-Fotos im Zentrum der Auslage, einer unauffälligen Weihnachtsdekoration. Abgebildet war ein Mann mit weichem Gesicht, auf dessen Hut und Mantel in großen Flocken Schnee fiel. Über der gepunkteten Fliege stand sein Mund leicht offen, er lächelte.

Die vier Menschen vor dem Schaufenster erwiderten das Lächeln. Dass sie weiter in dieselbe Richtung gingen, irritierte nur wenig. Am Ku’damm erklommen sie hintereinander den Doppelstockbus. Das obere Deck war leer, so dass sie sich ohne nachzudenken auf die vorderen Bänke setzten. Der Bus fuhr an. Das Motorgeräusch versank. Zehntausende Lämpchen in den Kronen der Platanen. Himmel. Vier lächelnde Münder. Seligkeit. Der formbewusste Herr stieg am Lützowplatz mit Vera aus und brachte sie zum Hotel. Von einer nahe gelegenen Bar aus ließ er sich später ein Taxi rufen. Carl verabschiedete sich mit einer festen Umarmung von seiner Freundin und verließ den Bus am Checkpoint Charlie. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel riss auf und zeigte wilde Sterne.

Uwe Kolbe, geboren 1957, lebt als Lyriker in Berlin. Zuletzt erschienen bei Wallstein seine Essays „Vinetas Archive“.

Uwe Kolbe

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