zum Hauptinhalt

Kultur: Ein Jahrhundert zu besichtigen

Weihnachten wurde besonders prächtig und herzlich gefeiert, im großbürgerlichen Hause der Familie Mann in der Poschinger Straße in München. Hinter der zugeschobenen Glastüre wartete der vor Geschenken überbordende Gabentisch, während die Familie beim Mahle saß, die sechs Kinder mit vor freudiger Erregung glänzenden Augen und roten Backen.

Weihnachten wurde besonders prächtig und herzlich gefeiert, im großbürgerlichen Hause der Familie Mann in der Poschinger Straße in München. Hinter der zugeschobenen Glastüre wartete der vor Geschenken überbordende Gabentisch, während die Familie beim Mahle saß, die sechs Kinder mit vor freudiger Erregung glänzenden Augen und roten Backen. Dann wurde gesungen, und der Vater, Thomas Mann, sang mit lauter Stimme allen voran die Weihnachtslieder vor, ehe es die Bescherung gab.

Ein deutsches Idyll? Eine deutsche Familie, wie sie sich heiler und herzlicher nicht denken lässt, voll fester Ordnung und Harmonie? Das Gesicht der heute 82-jährigen Elisabeth Mann Borgese leuchtet noch heute im Erinnerungsglück, wenn sie, bei der Ortsbesichtigung der väterlichen Villa in den leeren, verwaisten Räumen das Damals der zwanziger Jahre wiedererstehen lässt und der Bilder-Erzähler Heinrich Breloer ihre Erinnerungen mit Opulenz und akribischer Akkuratesse als Film zu Leben erweckt.

Und dann ein Faschingsfest! Mitten in den roaring twenties, den wild bewegten Inflationsjahren, in denen ringsherum alles drunter und drüber ging und das Mannsche Elternhaus wie ein Hort und eine Festung der Solidarität erschien, in die dennoch das übermütig wilde Leben schwappte. Da erlebte die kleine Elisabeth auf dem Arm eines erwachsenen Tänzers ihre erste Liebe: das Glück, von seinen Armen getragen, geschwenkt zu werden, das Unglück, danach fiebrig, allein und verlassen im Bett zu liegen. Der berühmte Vater hat das in einer Novelle festgehalten, fest geschrieben. "Unordnung und frühes Leid" heißt sie, und Elisabeth (sie lebt heute als angesehene Meeresbiologin in Kanada) bestätigt als lebendige Augenzeugin aus über sechzigjähriger Distanz, dass es so war, wie der Vater es erzählt hat, genau so.

Kleine Rollen gibt es nicht

Dass die alte Dame mit dem feinen, typisch Mannschen Vogelkopf und den klugen, wachen und durchdringenden Augen bereit war, sich vor laufender Kamera an ihren Vater, ihre Mutter, ihre Geschwister - an Klaus und Golo, an Erika, an Monika und an Michael - zu erinnern, ist einer der Glücksfälle, wenn nicht der Glücksfall des dreiteiligen Fernsehfilms, den Breloer und Horst Königstein, das erfahrene und erfolgsgewohnte Duo, in ihrer bewährten Dokuspielmanier über das Leben der wohl berühmtesten und repräsentativsten deutschen Familie des zwanzigsten Jahrhunderts gedreht haben.

Aber der ganze dreiteilige Fernsehfilm ist ein Glücksfall. Hervorragend bis in die kleinste Rolle besetzt (aber gibt es in der weitverzweigten Familie Mann, ihren illustren Freunden, Bekannten, Mit- und Gegenspielern überhaupt kleine Rollen?), gelingt es dem Film mit den Lebensbildern der Familie Mann in Deutschland, Frankreich, Amerika, der Schweiz nicht nur, die vitalen Gegensätze und (buchstäblich) tödlichen Widersprüche in der Rekonstruktion lebendig wiedererstehen zu lassen, sondern Breloers großer Wurf schafft es auch, eindringlich deutlich zu machen, dass diese Großfamilie eine ganze Epoche wie in einem Brennspiegel einfängt - ein großes historisches Panorama des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Tat: ein Jahrhundert wird besichtigt - um es mit einem Mannschen Titel zu sagen.

Der voller Herzlichkeit und Wärme im Kreise seiner Lieben Weihnachten feiernde Thomas Mann, der als "Zauberer" mit Zylinder und im sternenübersäten Umhang seine Kinder beobachtet und sie auf das freizügigste Fasching feiern lässt, das ist gleichzeitig die Wahrheit und die imposante Lebenslüge, die die Familie bestimmt. Denn neben der (scheinbaren) Nähe und Wärme, die im Hause Mann neben der disziplinierten Ordnung herrscht, regiert auch Thomas Manns rigide und erschreckende Kälte, die schier unendliche Distanz, die er sich zum eigenen und anderen Leben auferlegt hat.

Wir sehen und erfahren, wie sich seine Frau, die ihn mit Engelsgeduld umhegt hat und das gigantische Werk leistete, neben der Versorgung der Familie, alle seine Manuskripte gleich mehrfach und in vielen Versionen abzuschreiben, wie sich also Katja Mann (eindringlich in ihrer Mischung aus Strenge und Herzlichkeit von Monica Bleibtreu gespielt) fast nicht einmal traut, den geheiligten Mittagsschlaf des hohen Gemahls zu stören, als sie die telefonische Nachricht erreicht, ihm sei der Nobelpreis für Literatur verliehen worden.

Das Leben wegstilisieren

Es gibt erschreckende, ja abstoßende Zeugnisse der unnahbaren Kälte Thomas Manns, die das Produkt einer eisernen Selbstdisziplinierung war, bei der es dem Schriftsteller gelang, sein Leben total dem Werk unterzuordnen, es dem Schreiben zu opfern, in Literatur aufgehen zu lassen. "Leiden und Größe der Meister" hießen seine einfühlenden, mitfühlenden und doch analytisch kalten Essays über Künstlerkollegen, über Goethe, Tolstoi, Wagner. Und die eigene Größe war es, dass er sein Leiden, also sein Leben wegstilisierte zur Größe.

Als sich sein Sohn Klaus (Sebastian Koch spielt den voll panischer Lebensgier dem Tode Entgegenflatternden) umbringt, erreicht die Nachricht den Vater auf einer Lesereise durch Schweden. Er verschiebt die Trauer, bricht nicht einmal die Teilnahme an einem festlichen Galadinner ab, so sehr ist sein Leben auf strenge Form und äußere Disziplin abgerichtet.

In Kalifornien, im luxuriösen Exil der Pacific Palisades, herzt und küsst er seinen Liebling, den Enkel Frido. Der Großvater vergöttert das engelsgleiche Kind, liest ihm vor, Frido ist gerade einer tödlichen Krankheit, die als Kinderlähmung diagnostiziert wurde, entronnen. Doch dann bringt Thomas Mann, der den "Doktor Faustus" schreibt, den Enkel mit kalter Präzision in seinem Buch um, mit einer Meningitis. "Durch genaue Information über die Krankheit, die dem Bösen zu seiner Untat dienen muss" (der Tod ist im Roman Teufelswerk), schreibt Thomas Mann, hatte er sich auf die literarische Tötung vorbereitet. "Es auszuführen, wurde mir bitter schwer." Natürlich ist die Familie entsetzt über diese professionelle Mordlust.

Thomas Manns Kälte, Unnahbarkeit und Selbstdisziplin definiert auch sein Verhältnis zu seinem Bruder Heinrich (Jürgen Hentsch spielt diesen melancholischen Bonvivant, der sich voller spöttischer Würde durch Kaschemmen und Betten wälzte, um im kalifornischen Exil durch Nichtbeachtung, Armut und die Abhängigkeit von dem wohlhabenden weltberühmten Bruder zermürbt zu werden). Der Film zeigt sehr eindringlich, wie sich da Neid und Verachtung mischen.

Das gilt noch stärker für Heinrichs Frau Nelly, eine sinnliche schöne Frau und Schnapsdrossel, deren Resolutheit aus ihrer proletarischen Herkunft resultiert und die T. M. als Beleidigung und Bedrohung empfand: "die entsetzliche Trulle" hat er sie genannt. Veronica Ferres setzt dieser gleichzeitig spontan tapferen und vulgär haltlosen Frau ein schönes, lebendiges Denkmal, gibt der in Suff und Verzweiflung über die verlorene Lebenslust Strauchelnden eine wunderbare Ausstrahlung und eine unantastbare Würde. Blickte T. M., wenn er seinen Bruder und dessen Frau sah, in eine Art Zerrspiegel, in dem er die eigene Triebunterdrückung sich frei und hemmungslos und, in seinen Augen, auch würdelos austoben sah? Dass Armin Mueller-Stahl Thomas Mann spielt, muss man ebenfalls als großen Glücksfall dieses Fernsehereignisses ansehen.

Die Ähnlichkeit ist nicht so sehr eine äußerliche, obwohl Mueller-Stahl dem wahren, in Fotos überlieferten T. M., mit dem er oft die Rolle im unmittelbaren Wechsel zwischen Dokument und Spiel tauscht, verblüffend gleicht. Sie ist eine Ähnlichkeit der inneren Haltung, der spürbaren Zurücknahme des Lebens. Der schmerzhaft gepresste Mund und die Augen, deren Blicke zwischen Abwehr und unbändiger Beobachtungsneugier wechseln, sind die deutlichsten Indizien. Im Ganzen mag Mueller-Stahl wärmer, weicher, ja menschlicher als Mann sein. Trotzdem wird seine Darstellung vom Nachbild und Nachleben Thomas Manns nicht mehr zu trennen sein.

Sein wahres Leben hat der Schriftsteller nur seinen Tagebüchern anvertraut. Wir wissen nicht, welcher Schock es war, als der Junge in dem hanseatisch eingeschnürten Lübeck seine Homosexualität entdeckte und welche Kraft es forderte, sie gleich wieder zu exorzieren. Die Tagebücher, die das belegen und die ihn fast den Nazis ausgeliefert hätten, hat er 1945 (aus Angst vor Mc Carthy?) verbrannt. So sind wir auf sein schönes sprödes Schriftwerk angewiesen.

Der Film beginnt und endet am Meer, bei Lübeck. Dorthin kam eine schöne Fremde aus Brasilien und heiratete einen lübschen Kaufmann. Norden und Süden, so sagt der Film über die Mutter von Heinrich und Thomas, vermählen sich; Ordnungssinn und Leidenschaft - das wird das Erbe, das in Heinrichs pornografischer Sinnenlust ebenso explodiert wie es sich in der Selbstkasteiung von Thomas, seiner Lebensvertagung ins Schreiben manifestiert. Seine amerikanische Freundin und Mäzenin Agnes Meyer (dass sie bei Breloer nicht vorkommt, ist ein kleines Manko) hat es in einem Brief an T. M. so ausgedrückt: "Sie zu lieben, mein Freund, ist eine hohe Kunst, ein komplizierter Solotanz, den nicht jeder fertig bringt."

Hellmuth Karasek

Zur Startseite