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Kultur: Ein Märchen aus uralten Zeiten

Prunkvoll: die Magdeburg-Berliner Ausstellung zum „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“

Das Heilige Römische Reich wird meist von seinem unrühmlichen Ende her betrachtet. Am 6. August 1806 legte Franz II. in der von Napoleon erzwungenen Neuordnung Europas die Kaiserkrone nieder – um als Franz I. Kaiser eines eigenständigen habsburgischen Reiches zu sein. Österreich schied damit endgültig aus dem deutschen Reichsverband aus.

Das Alte Reich sei 1806 „morsch“ gewesen, lautet das landläufige Urteil. Landläufig? Das Sacrum Romanum Imperium ist aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu vollständig verschwunden. Was wir an mittelalterlichen Stadtkernen, an Ritterburgen und Schlössern besitzen, verbinden wir nicht mehr mit jenem überwölbenden Gebilde, das gewiss eine höchst wechselhafte Geschichte aufweist und doch über 850 Jahre hinweg Bestand hatte. Diese 850 Jahre seit der Kaiserkrönung Ottos des Großen 962 umspannen das Hoch- und Spätmittelalter und die frühe Neuzeit bis an den Beginn der Industriellen Revolution.

Nun ist der 200. Jahrestag der Auflösung durch den französischen Usurpator Anlass für eine höchst anspruchsvolle Geschichtsausstellung, die als Titel den seit 1474 gebräuchlichen, vollen Namen des Reiches trägt. Heute wird ihr zweiter Teil, „Altes Reich und neue Staaten 1495-1806“, im Deutschen Historischen Museum (DHM) Berlin eröffnet, nachdem gestern bereits der erste Abschnitt, „Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters“, im Kulturhistorischen Museum Magdeburg gefeiert wurde.

Die Reichsgeschichte findet sich jetzt auf – beide Museen zusammengerechnet – 3000 Quadratmetern und in knapp 1100 Objekten ausgebreitet. Der Angelpunkt des Berliner Teils ist die Abdankungsurkunde Franz’ II. samt handschriftlichem Entwurf. Einige Vitrinen zuvor ist die Ratifizierungsurkunde des Rheinbundes zu sehen, mit der sich 16 Reichsstände aus dem lose gewordenen Reichsverband verabschiedeten und ihn damit zum Einsturz brachten. Einige Vitrinen weiter liegt das preußische Signatarexemplar der Schlussakte des Wiener Kongresses, der über das Reich hinwegging wie über alten Plunder.

Mit der Darstellung der „neuen Staaten“, die sich als souveräne Territorialstaaten großflächig an die Stelle des kleinteilig gewirkten Musters des Alten Reiches setzten – Bayern, Preußen, Württemberg, Sachsen, Baden –, verlagert das DHM den Blickwinkel auf die Folgen des Reichsendes, auch auf die Phantomschmerzen, die dessen Untergang hervorrief. Die deutsche Romantik erträumte die Wiederkehr Kaiser Barbarossas, wirkmächtig bis ins 20. Jahrhundert hinein. Ärgerlich bleibt, dass das DHM nahezu die Hälfte seines Platzes dem Verschwinden des Reiches widmet, als müsste es beschwören, dass es tatsächlich vergangen sei. Gälte es nicht, das Unverständliche und Staunenswerte an dieser historisch singulären Staatsidee zu erklären?

„Die Säkularisation raubte den Nimbus, die Nationalisierung das universale Römertum, die deutsche Katastrophe das Reich“, heißt es treffend in der Einleitung zum begleitenden Magdeburger Essayband. Damit sind die drei Elemente zumindest der Frühzeit des Alten Reiches benannt, die uns so unendlich ferngerückt sind, und die sich in der Magdeburger Ausstellung so hervorragend veranschaulicht finden: der Nimbus des Reiches, dessen Rückbezug auf das Imperium Romanum und die Reichseinheit. Letztere jedoch war stets fragil, weil das Mittelalter auf personalen Abhängigkeiten beruhte. So hatte jeder Kaiser sich beständig der Treue der nominell von ihm belehnten Fürsten zu versichern. Vielfältig wurden diese personalen Beziehungen überlagert von Partikularinteressen und später vom Konfessionsstreit, der das Reich von Luthers Thesenanschlag bis zum Westfälischen Frieden 1648 lähmte. Ausgerechnet dieser bis heute prägende Prozess kommt im DHM entschieden zu kurz.

Es ist vielleicht bezeichnend, dass die Reformation in Karl V. (reg. 1519-1556) den letzten Kaiser zum Gegner hatte, der die Monarchia universalis anstrebte (und allein schon an den Reichsständen und der von ihnen verfochtenen „teutschen Libertät“ scheiterte). Die Verbindung von säkularer und sakraler Herrschaft weist zurück auf das Mittelalter, das beides in der Person des vom Papst gesalbten Königs und Kaisers verband. Karl V. lebte jedoch zugleich am Beginn der Moderne mit der Entdeckung der Welt jenseits der Ozeane, mit Humanismus und Naturwissenschaften. Auch wenn er im DHM in der Bronzebüste des Hofbildhauers Leone Leoni als Sieger der Konfessionsschlacht von Mühlberg 1547 so eindruckheischend erscheint, war er seinem Ziel am Ende ferner denn je.

Die beide Ausstellungen verklammernde Schlüsselfigur ist sein Großvater und Vorgänger Maximilian I., der als „letzter Ritter“ im Kollektivgedächtnis verankert blieb. Anders, als das schmückende Beiwort nahelegt, war er durchaus kein verträumter Rittersmann. Gewiss erfuhren ritterliche Sitten unter ihm eine letzte – nebenbei von der Kriegstechnik längst überholte – Blüte, doch zugleich ist er als Erster, der (ab 1508) nurmehr den Titel „Erwählter Römischer Kaiser“ führt, derjenige, der das Band zu Rom löst, das das Reich bis dahin mit dem Süden verbunden hatte.

Vor allem aber werden unter Maximilian jene Reformen verwirklicht, die das Reich und seine Gelehrten das ganze 15. Jahrhundert über beschäftigt hatten. Der vom Wormser Reichstag 1495 proklamierte „Ewige Frieden“ und die Errichtung des Reichskammergerichts – beides in reich geschmückten Urkunden zu bewundern – setzen den mittelalterlichen Fehden ein Ende in Gestalt verschriftlichter Gerichtsbarkeit. Die Einteilung des riesigen Reichsgebietes in zehn Kreise schafft dann 1512 überschaubare, entpersönlichte Verwaltungseinheiten.

Wie sehr Maximilian an seinem Ruhm gelegen war, zeigt die „Ehrenpforte“ von Albrecht Dürer – der größte, jemals gedruckte Holzschnitt von nicht weniger als 195 Druckstöcken, der eine ganze Wand im Magdeburger Museum füllt. Ein ungemein kompliziertes Bildprogramm untermauert den Anspruch des Herrschers, der sich auf die antike Herkunft seines Geschlechts beruft.

In Magdeburg tritt der Besucher in eine wahrlich versunkene Welt. Im Unterschied zum themenbezogenen Berliner Teil ist der Magdeburger Auftakt streng chronologisch aufgebaut, entlang der Kaisergeschlechter der Ottonen, Salier, Staufer und Luxemburger, ehe mit Maximilians Vater Friedrich III. 1452 die Habsburger Vorherrschaft beginnt.

Es ist bewundernswert, was die Magdeburger gerade für die Frühzeit zusammengetragen haben: etwa die Gründungsurkunde ihres Bistums durch Otto den Großen von 968, etliche illuminierte Handschriften und Evangeliae aus der Zeit um 1000 oder den sogenannten Barbarossa-Kopf von 1160, der vielleicht das erste profane Herrscherbildnis seit der Antike darstellt. Ein Kölner Reliquiar in Form einer Basilika aus dem 12. Jahrhundert steht für die Vielzahl von Reliquienschreinen, wie sie vor allem im Rhein-Maas-Gebiet entstanden und heute nicht mehr ausleihbar sind. Mit dem Magdeburger Reiter von 1240 – der ersten freistehenden Reiterstatue nördlich der Alpen – weist das Museum auf die mittelalterliche Bedeutung Magdeburgs – hat doch Otto der Große seine Grablege seit 973 im Dom. So erklärt sich nebenbei, warum die Elbestadt den Mittelalterteil dieses enormen Ausstellungsvorhabens ausrichtet, das zudem mit dem Prädikat der „29. Europäischen Kunstausstellung“ geadelt wird.

Dem heutigen Betrachter leichter zugänglich wird die Ausstellung im Kapitel zu „Minnesang und Ritterspiel“. Unter Panzerglas ruht der Codex Manesse, die Große Heidelberger Liederhandschrift (um 1330), deren Ausleihe eine Sensation darstellt. In 5240 Strophen findet sich hier ein Kompendium mittelalterlicher deutschsprachiger Lyrik. Weitere Liederbücher, aber auch Goldfibeln von Rittergewändern und elfenbeinerne Schmuckkästchen zeugen von der künstlerischen Verfeinerung dieser Spätzeit.

Zahlreiche Unterkapitel ließen sich anführen, die in beiden Ausstellungsteilen zur Abschweifung verleiten. Ob das Prag Karls IV., der mit der „Goldenen Bulle“ von 1356 die Wahlmonarchie auf eine feste Grundlage stellte, ob die Beziehungen zu den Türken, veranschaulicht in einem Prunkbrief Süleymans des Prächtigen an Karl V., ob die Zeremonialgewänder zur Krönung des Wittelsbachers Karl VII. 1742 – überall blitzen Facetten dieses vielgestaltigen Staatsgebildes auf.

Es gibt nur eine Fehlstelle: die Reichskleinodien, die auf Ottos Vorgänger Karl den Großen und dessen Kaiserkrönung am Weihnachtstag des Jahres 800 zurückverweisen. Als Statthalter fungiert in Magdeburg der gewaltige Nürnberger „Heiltumsschrein“, in dem sie jahrhundertelang bewahrt wurden. Doch heute liegen sie unerreichbar in der Wiener Hofburg, und gerade ihr Fehlen betont das unwiderrufliche Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Es bietet beständigen Stoff – so für vier schwergewichtige Ausstellungshandbücher –, aber es taugt nicht zur Aktualisierung, auch wenn die Veranstalter mit dem Verweis auf das heutige, multinationale Europa eine Verständnisbrücke bauen wollen. Das Alte Reich ist vergangen, doch in all seinem Reichtum wert, heute neuerlich erinnert zu werden.

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