zum Hauptinhalt

Kultur: Ein Pferd namens Klinsmann

WETTBEWERB „The Forgiveness of Blood“ aus Albanien

Dieser Film spielt in Europa, im 21. Jahrhundert. Das muss man sich klarmachen, denn die Geschichte des 17-jährigen Nik (Tristan Halilaj) ist von mittelalterlicher Brutalität. Bis heute existiert in den Bergen Nord-Albaniens die Tradition der Blutrache. Weder die jahrhundertelange Herrschaft der Osmanen noch Enver Hodschas Steinzeitkommunismus noch die demokratische Wende haben daran etwas wesentlich verändert: Blutrache lässt sich nicht wirklich ausrotten, der „Kanun“, eine Art Gewohnheitsstrafrecht, regelt die Rituale der Entschädigung, des Waffenstillstands, der Schlichtung.

Niks Vater ist dabei, als ein Mann wegen eines läppischen Grundstücksstreits ermordet wird. Der Vater flieht, hält sich versteckt, und nach der alten Sitte bunkert sich Nik im Elternhaus ein, um nicht der Familie des Opfers in die Hände zu fallen. Draußen wartet auf den Jungen der Tod, drinnen die schreckliche Isolation mit der Mutter und den Geschwistern; er darf nicht mehr zur Schule. Der Kanun ist eine zähe Männerangelegenheit, die Frauen müssen die Arbeit übernehmen und Geld verdienen, wenn die Männer blutige Fehden austragen. Niks tapfere Schwester Rudina (Sindi Lacej) fährt mit dem vorzeitlichen Pferdewagen Brot aus, handelt mit Zigaretten, hält die Familie zusammen.

Der Gaul heißt Klinsmann, Deutsches ist in Albanien sehr beliebt. Wer es sich leisten kann, kutschiert mit einem alten Daimler über die kaputten Straßen. Im Detail zeigt sich, wie sorgfältig der amerikanische Filmemacher Joshua Marston in Albanien für „The Forgiveness of Blood“ recherchiert hat. Marston („Maria voll der Gnade) schrieb das Drehbuch gemeinsam mit seinem Kollegen Andamion Murataj, der wie die meisten albanischen Intellektuellen und Künstler im Ausland lebt.

Die andere Welt, das Neue hat in Niks Dorf die Gestalt von Computern und Handys. Es ist sein Traum, ein Internetcafé zu eröffnen, nach der Schule, und er ist in seine schöne Klassenkameradin Bardha verliebt. Mit dem Ausbruch der Blutfehde sind ihm sämtliche Perspektiven abrupt abgeschnitten. Dem Kanun wohnt eine unheimliche Macht inne, gegen die man nicht aufbegehren kann. Die Alten verteidigen die Tradition, auch wenn sie ihre Familien zerstört, der Kanun hat semireligiösen Charakter.

Ismael Kadaré, Albaniens berühmtester Schriftsteller, schildert in dem Roman „Der zerrissene April“ das Los eines jungen Mannes, der den tödlichen Anschlag erwartet. Kadaré bringt dem kanunischen Gesetz noch eine gewisse Ehrfurcht entgegen, in „The Forgiveness of Blood“ deutet sich die Rebellion einer neuen Generation an, nichts muss ewig sein. Nik kann der Blutrache entgehen, aber um den Preis des Allerheiligsten, des familiären Zusammenhalts. Der Weg hinaus bedeutet Flucht, Exil. Zurück bleibt das Rückständige – das Schicksal Albaniens.

Ein Spielfilm mit dokumentarischem Charakter. Die Darsteller stammen aus Nordalbanien, wurden dort in Schulen gecastet. In dieser bitterarmen Gegend Europas ist ein solches Filmprojekt ein exotisches Unternehmen. Die Häuser werden in der idyllischen Landschaft zu Gefängnissen. Der Fernseher läuft ununterbrochen, die Todesdrohung kommt per SMS. Bedrückend zu erleben, wie oberflächlich die Technologie bleibt, wie wenig sie beiträgt zur Zivilisation. Begriffe wie Ehre, Stolz und Familie überwuchern das Leben, und man versteht auch, dass der Kanun mit seinen absurd anmutenden Vorschriften dazu angetan ist, noch mehr Blutvergießen zu verhindern.

Der schmächtige Nik beginnt sich unter großen Schmerzen aus der Männer-Mörder-Opferrolle herauszuschälen. Eine Lektion, die nicht nur auf albanische Verhältnisse zutrifft, sondern auf systemische Diktaturen schlechthin, ob in der Familie, im Dorf, in Staaten: Befreiung kann nur von innen kommen. Wenn die Zeit gekommen ist. Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false