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Moderner Gulag. Das Frauengefängnis Sarapul in Zentralrussland. Hier sind die beiden Musikerinnen von PussyRiot inhaftiert. Foto: AP

© dapd

Ein Porträt des Dokumentartheater-Machers Milo Rau: Die inszenierten Prozesse

Der 1977 in Bern geborene Schweizer Milo Rau bringt „Breiviks Erklärung“ nach Berlin. Zudem bereitet in Moskau ein Pussy-Riot-Stück vor. In seiner Heimat klagt er eine Zeitung an. Sind Fakten stärker als Fiktion?

In Weimar gab es dieser Tage einen Theaterskandal. Der geschäftsführende Direktor des Deutschen Nationaltheaters, Thomas Schmidt, hat kurz vor der Premiere „Breiviks Erklärung“ vom Spielplan verbannt, eine vom Schweizer Regisseur Milo Rau eingerichtete Lesung der Verteidigungsrede, die der 77-fache Mörder und Rechtsterrorist Anders Breivik am 17. April dieses Jahres vor dem Osloer Gericht gehalten hatte. Die Erklärung, die längst im Internet kursiert, durfte seinerzeit weder im Fernsehen übertragen noch anderweitig verbreitet werden. Man wolle sich „von den Aussagen der für die Öffentlichkeit gesperrten Erklärung distanzieren“, hieß es in der Stellungnahme des Theaters.

Die Frage nach dem Wie wurde erfolgreich von der nach dem Was verdrängt. Und die eigentliche Aufführung, die schließlich in einem nahe gelegenen Kino stattfand, hatte dank der vorauseilenden Skandalisierung nur noch Fußnoten-Status. Wenn „Breiviks Erklärung“ am heutigen Sonnabend noch einmal im Berliner Theaterdiscounter verlesen wird, wird sich allerdings zeigen, warum es sich über das Wie durchaus zu diskutieren lohnt. Denn der 1977 in Bern geborene Milo Rau, ein auf sensible politische Sujets spezialisierter Regisseur, hat sich konzeptionell so weit wie möglich von jedweder Breivik-Verkörperungsidee entfernt. Er lässt die Rede von der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan lesen: langsam, sachlich, Kaugummi kauend.

Was an dem Abend tatsächlich stattfindet, ist nicht nur eine Entdämonisierung, sondern auch eine gezielte Enttheatralisierung Breiviks: Rau und Soydan tragen die vertrauten Medienbilder vom Massenmörder und dessen Selbstinszenierung ab und legen die Architektur eines rassistischen Gedankengebäudes offen, dessen Anschlussfähigkeit an mehr oder weniger etablierte rechtsnationale Diskurse eine demokratische Gesellschaft analytisch aufarbeiten sollte, statt sie zu verdrängen.

Es geht ihm stets um das Wie. Milo Raus nächstes Projekt nennt sich „Moskauer Prozesse“. Im März 2013 will er in der russischen Hauptstadt einen dreitägigen Schauprozess inszenieren, mit Akteuren aus dem politischen Leben. Schon vor zwei Jahren, erzählt der Regisseur, habe er in Moskau zu recherchieren begonnen und bei dieser Gelegenheit auf dem Roten Platz eine Aktion der Frauenpunkband Pussy Riot miterlebt. Er lud sie ein, mit ihm zusammenzuarbeiten. Doch die Realität hat das Vorhaben schnell überholt: Zwei Bandmitglieder wurden wegen eines fünfminütigen Putin-kritischen Auftritts in der Moskauer Erlöser-Kathedrale bekanntermaßen selbst in einem Schauprozess verurteilt und mussten dieser Tage ihre Lagerhaft antreten. Die Gerichtsverhandlungen werden nun zu einer konkreten Bezugsgröße für Raus Inszenierung. Zusätzlich stützt er sich auf den neun Jahre zurückliegenden Prozess gegen die Kuratoren der religionskritischen Ausstellung „Vorsicht, Religion“ im Moskauer Sacharow-Zentrum, die nur knapp einer Verurteilung zur Zwangsarbeit entgingen. Eine der Hauptangeklagten nahm sich nach dem Prozess das Leben.

Bis dato hat Milo Rau, der vor seiner Theaterkarriere Germanistik, Romanistik und Soziologie studiert und als Journalist gearbeitet hat, vor allem das Reenactment als politisches Theater-Format etabliert: die künstlerische Rekonstruktion realer historischer Ereignisse. Am HAU inszenierte er den Strafprozess gegen das rumänische Diktatorenehepaar Nicolae und Elena Ceausescu aus dem Jahr 1989 oder „Hate Radio“, die Kompilation einer Programmstunde des ruandischen Rundfunksenders RTLM, der als eines der zynischsten Propagandainstrumente im ruandischen Genozid galt. Reenactment, sagt Rau, könne „etwas Distanziertes auf eine sehr komplexe Weise erfahrbar machen, die sich aber ganz naiv gibt.“ Die Analyse wird hier nicht als Fertigprodukt mitgeliefert, sondern wirksam an die Publikumsgehirne delegiert, wobei Rau natürlich die idealen Voraussetzungen schafft. Zuvor hatte er in Ruanda an die fünfzig Interviews geführt, jedes „am liebsten über fünf, sechs Stunden.“

Für die „Moskauer Prozesse“, die einmalig im Sacharow-Zentrum der russischen Hauptstadt stattfinden und im deutschsprachigen Raum anschließend in einer Filmversion gezeigt werden, inszeniert der Regisseur die Gerichtsverhandlungen jetzt allerdings nicht nach, sondern tatsächlich neu – mit offenem Ausgang. Kunst versus Religion oder, um mit Rau zu sprechen, „das dissidente“ gegen das „wahre“ Russland. Stellvertretend für seine Frau wird der politische Künstler Petr Wersilow, Ehemann einer der verurteilten Pussy-Riot-Mitglieder, gleichsam im Gitterkäfig sitzen. Die Verteidigung übernimmt Anna Stavickaja, tatsächliche Anwältin sowohl im „Vorsicht, Religion!“-Prozess als auch in der Verhandlung gegen den 2005 verurteilten Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski. Gehört werden unter anderem Wsewolod Tschaplin, offizieller Sprecher des radikalen Flügels der orthodoxen Kirche, Jurij Samodurow oder die Talkshow-Moderatorin Ksenja Sobchak, die mit ihrem Wechsel aus dem Putin- ins oppositionelle Lager das gewünschte Aufsehen erregte und von Rau als eine Art „Paris Hilton Russlands“ beschrieben wird. Was beim Prozess tatsächlich passiert, ist vollkommen offen. Am Ende fällt ein nach Zufallsprinzip ausgewähltes Schöffengericht aus sechs Moskauer Bürgern das Urteil: „Ein Diskursangebot an die ganze Bevölkerung““, so Rau.

Akteure aus dem oppositionellen Bereich für künstlerische Aktionen zu gewinnen, sei „relativ einfach“, erklärt er: Schwieriger werde es, „wenn es auf die Regierungsseite zugeht“, wobei sich der eine oder andere möglicherweise doch noch zurückzieht: „Bis jetzt haben wir versucht, das Projekt ausschließlich über Deutschland zu vermitteln und außerhalb der direkt beteiligten Kreise in Russland möglichst noch gar nichts zu erwähnen“, sagt Rau. Folglich gab es auch noch keine Schwierigkeiten.

Dass sich das schnell ändern kann, weiß der Regisseur aus eigener Erfahrung, ironischerweise aus der Schweiz. Als er dort vor Jahren ein Theaterprojekt über den 1999 in St. Gallen verübten Mord eines Kosovo-Albaners am Lehrer seiner Tochter plante, der für die Schweizer Ausländerpolitik eine immense Bedeutung bekommen sollte, erhielten er, seine Familie und das Theater im Laufe weniger Tage über hundert Morddrohungen, auch infolge von Falschbehauptungen in der Presse. Raus Eltern mussten den Wohnort wechseln. Die Produktion wurde abgesagt und später in veränderter Version nachgeholt.

Im nächsten Mai inszeniert Milo Rau in der Schweiz die „Zürcher Prozesse“ gegen die als rechtskonservativ bis rechtspopulistisch geltende Wochenzeitung „Die Weltwoche“. Die Anklagepunkte: „Vorbereitung zum Hochverrat, Schreckung der Bevölkerung und Verstoß gegen den Antidiskriminierungsartikel.“ Der Anwalt der „Weltwoche“, der auch den Eurovision Song Contest und die FIFA vertritt, habe seine Teilnahme sofort zugesagt, erzählt Rau. Und Chefredakteur Roger Köppel lud den Regisseur zum gemeinsamen Fotoshooting mit Boxhandschuhen: die Inszenierung der Inszenierung.

Wohl dem Theater, das solche Mechanismen offenlegt.

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