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Kultur: Ein Riese schwebt

Ein Satz, der Maßstäbe setzt: "Wenn Ihr alle meine Multiples habt, dann habt Ihr mich ganz", soll Joseph Beuys mit einem gewissen messianischen Unterton gesagt haben.Die gestern im Hamburger Bahnhof eröffnete Ausstellung "Joseph Beuys - Editionen" gibt nun Gelegenheit, seiner Künstlerschaft fast zur Gänze teilhaftig zu werden.

Ein Satz, der Maßstäbe setzt: "Wenn Ihr alle meine Multiples habt, dann habt Ihr mich ganz", soll Joseph Beuys mit einem gewissen messianischen Unterton gesagt haben.Die gestern im Hamburger Bahnhof eröffnete Ausstellung "Joseph Beuys - Editionen" gibt nun Gelegenheit, seiner Künstlerschaft fast zur Gänze teilhaftig zu werden.Gezeigt wird die Sammlung des Berliner Kaufmannes Reinhard M.Schlegel, der neben der im Bonner Kunstmuseum gezeigten Sammlung Ulbricht europaweit die vollständigste Kollektion dieses Spezialgebiets besitzt.

Insgesamt 548 Nummern zählt das Werkverzeichnis der Beuysschen Editionen und Multiples, die seit den frühen sechziger Jahren bis zum Tod des Künstlers 1986 entstanden.Beinahe ebenso viele hat Reinhard Schlegel in den vergangenen 25 Jahren aus diesem riesigen Sammlungsterrain zusammengetragen.Eine Fokussierung, die sich lohnt: Die Konzentration auf diesen besonderen Komplex gibt der Betrachtung des Gesamt¥uvres eine unerwartete Frische; aus den kleinen Auflagenobjekten, den signierten Plakaten und edierten Schrifttafeln wendet sich der Künstler noch immer mit einer großen Unmittelbarkeit an den Betrachter, der überrascht erkennt, wie musealisiert sein Werk heute wirkt.Unversehens steht der fast in Vergessenheit geratene politische Beuys wieder da, werden Zeiten lebendig, als die Sozialdemokraten schon einmal mit den Künstlern anzubandeln suchten.Und plötzlich bekommt der Film "Der Kanzler und die Kunst" ungeahnte Aktualität.

Aber auch für das Beuys weitgehend reservierte südliche Erdgeschoß im Hamburger Bahnhof wirkt die Ausstellung wie eine Frischzellenkur: "Das Ende des 20.Jahrhunderts" mit seinen tonnenschweren Basaltsteinen wurde in den Vorraum gerückt, bis auf die monumentalen Werke wie "Unschlitt" oder "Richtkräfte" die anderen Skulpturen neu geordnet.Nur das vor zwei Jahren eigens eingerichtete Medien-Archiv schweigt: Unstimmigkeit mit der Witwe des Künstlers führten zur Schließung; vorübergehend, wie es aus dem Hause heißt.

Zu sehen gibt es dennoch mehr als genug.Die Editionen-Ausstellung fordert sogleich zu längerem Bleiben auf, denn schon nach kurzer Zeit scheinen sich die Stücke zu verlebendigen, beginnen sie miteinander zu kommunizieren, zum Betrachter zu sprechen - gerade so wie es sich Beuys vorgestellt hatte, der mit seinen Multiples einen "weitreichenden Denkprozeß in Gang setzen, die Kommunikation über bestimmte Dinge beleben" wollte.Der gesamte Kosmos, die ganze Vielfalt dieses Universalkünstlers breitet sich hier aus.

So kehrt der poetische Beuys mit seinen filigranen Zeichnungen zurück, die in einer Druckqualität wiederaufgelegt sind, daß selbst der Graphitabrieb noch sichtbar wird.Als Künstler-Revolutionär schreitet er energisch auf dem Plakat "La rivoluzione siamo noi" voran; der ökonomische Analytiker schlägt sich in der Gleichung "Kunst = Kapital" nieder, die er auf Zehn-Mark-Scheine schrieb; der Lehrer und charismatische Überzeuger tritt noch einmal in den mit Kreide beschrifteten Schultafeln vor uns.Der politische Querdenker wiederum ruft sich mit dem Ausspruch "Demokratie ist lustig" in Erinnerung, den er quer über das Foto schrieb, das ihn inmitten einer Phalanx von Polizisten beim Verlassen der Düsseldorfer Kunstakademie zeigt.Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, etwa für den Kommunikator Beuys, der sich zusammen mit anderen Künstlern ablichten ließ, ja selbst den Illustrator, der einem Buch des Wiener Symbolisten Richard von Schaukal Zeichnungen hinzufügte.

Werklauf gleich Lebenslauf hat der Ausstellungskurator Eugen Blume dieses Phänomen genannt.Der Ausstellungsbesucher folgt willig diesen Wegen in all ihren Verästelungen - bis hin zum Familienfoto, das Eltern und Kinder Beuys einträchtig beim Fernsehprogramm mit "Raumschiff Enterprise" zeigt.Die assoziative Präsentation - fern jeglicher Chronologie und nur hin und wieder zu Themenkomplexen wie Politik, Lehre, Ökonomie zusammengefaßt - weckt immer wieder neu das Interesse.Die fast spielerische Form ist dem Künstler selbst abgeschaut, der vor siebzehn Jahren in Oslo in eigener Regie seine Multiples ausstellte.Auf Berlin übertragen, erhält plötzlich der erdenschwere Beuys im Untergeschoß eine Leichtigkeit, ja Heiterkeit, die man sich kaum noch bei ihm vorstellen konnte.

Beuys selber hat darum gewußt und ein Gegengewicht zu schaffen versucht, indem er der statischen Präsenz seiner Skulpturen die frei flottierenden Multiples als schnell distributierte Ideenträger an die Seite stellte.Noch heute sind zum üblichen Handelspreis seine Postkarten in Museumsshops zu erhalten.Erst seine Signatur und die begrenzten Auflagen machten die Objekte und Editionen zum begehrten Sammlerstück.So schnellte eine einfache Holzkiste in 12 000er Auflage, nobilitiert durch den Schriftzug "Intuition", von einst acht in die Höhe von heute mehreren tausend Mark.Denn wer wollte sie nicht besitzen, die Beuyssche Eingebungskraft?

Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 51, bis 13.Juni; Dienstag, Mittwoch, Freitag 10-18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr, Sonnabend, Sonntag 11-20 Uhr.Weitere Ausstellungsstationen National Gallery of Modern Art, Edinburgh, und Museum für angewandte Kunst, Wien.Katalog 39 Mark.

Anläßlich der Eröffnung der "Editionen"-und zum Ende der Sensation"-Ausstellung findet heute um 21 Uhr das Konzert "A Cage of Saxophones" statt.

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