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Kultur: Ein Riff wird kommen

Bar jeder Zukunft: Christoph Marthalers „Seemannslieder“ in Gent

Der Abend weckt Sehnsüchte, die er niemals stillen kann. Das Meer. Die Liebe. Der Suff. Und die Musik. Die Musik, die über den Strand weht und die Quais. Der lange Abend im Publiekstheater von Gent, einem wunderschönen Bürgerpalast zwischen den flämischen Kirch- und Wehrtürmen, die Jacques Brel einst besang – er erinnert daran, dass unsere Theater wie Segelschiffe sind, so mächtig und fragil, so abhängig von Wind und Wetter. Und manchmal auch so alt.

„Seemannslieder“ in einer Stadt, wo man die See riechen und einen großen, guten Topf Muscheln essen kann. Christoph Marthaler musste bei dieser Koproduktion mit ZT Hollandia kaum umdenken. Er betritt – auf Einladung von Johan Simons, des neuen Genter Intendanten – vertrautes, schwankendes Terrain. Es ist Marthalers erste Regie nach dem Ende seiner Zürcher Intendanz, die einer nautischen Expedition im Alpenland glich. Die große Schiffbauhalle wurde in Zürich für Marthaler hergerichtet, er ließ im zum Schiffsbauch umgebauten Schauspielhaus – vielleicht seine schönste Zürcher Arbeit – Shakespeares „Was ihr wollt“ vom Stapel, und schließlich steuerte die Marthaler-Crew in eine kulturpolitische Havarie, die Wellen schlug.

Christoph Marthaler, man wusste es doch immer schon, ist ein Schweizer Spökenkieker. Seine singenden, summenden, schläfrigen, verstolperten Helden – Schiffsbrüchige, Gestrandete, Aufschneider. Das Genter Seestück kann nun gar nichts anderes sein als Marthaler in Reinkultur. Hier ist er so sehr bei sich, dass kaum noch etwas zu sehen, zu suchen, zu sagen bleibt. Anna Viebrocks Bühne: eine Spelunke der Vorstädte, der Hafenbecken. Wie oft ist man hier schon eingekehrt, in Berlin, in Zürich, in Hamburg. Das Marthaler-Theater gleicht einer Stammkneipe. Man liebt es, man verflucht es. Und man geht immer wieder hin. Weil man irgendwann sein Herz verloren hat an diese lustigen Verlierer und somnambulen Zauberer. Weil Christoph Marthaler nie mit falschen Bedeutungen und großspurigen Behauptungen nervt.

Damals, als er im Schiffbau mit „Hotel Angst“ seine Intendanz eröffnete, schimpften und charmierten die Marthalers in sämtlichen Dialekten, die das Schweizerische hergibt. Ausländer verstanden nichts. Und doch: genug. Auch die Sprache, diese herausgepressten, dem Verstummen abgerungenen Sätze, ist bei Marthaler Musik. Eine Musik der verlorenen Zeit. Im Publiekstheater, zwischen Plattenspielern und Klavieren, Shanties und Schlagern, fantasieren sie niederländisch. Von der Liebe, von der Trennung, von der Einsamkeit und der stinkenden, alles verschlingenden See.

Die blonde Hafenwirtin, auch sie eine verlassene Seele, öffnet eine Tür. Heraus fällt ein Mann, wie ein nasser Seesack. Man weiß, was als Nächstes geschieht. Hinter jeder Tür steht ein Toter, ein Betrunkener, ein Schläfer und ruft erschrocken: „I love you.“ Liegende Holländer, die plötzlich über ein Geländer fliegen. Frauen, die über den Boden rutschen, als hätte die Stockfischbar Schlagseite. Man versteht sie alle nur zu gut, die stillen „Seemannslieder“, das verkratzte Vinyl und die Fundstücke aus dem hundert Jahre alten niederländischen Melodram „Hoffnung auf Segen“ von Herman Heijermans (Dramaturgie: Stefanie Carp und Paul Slangen).

„When a man loves a woman“, singt die Wirtin leise vor sich hin und spinnt ihr Seemannsfrauengarn: „When a man loves a man“, oder „When a man loves two women.“ Eine herrliche Soul-Nummer von Percy Sledge aus den Sechzigern. Und sonst? Kommen einem auf diesem sachte untergehenden Dampfer Lieder in den Sinn, die auf der Bühne nicht ertönen: Jacques Brel, das wäre vielleicht zu einfach gewesen, der Hafen von Amsterdam und so weiter. Nun, Marthaler meidet in seinen „Seemannsliedern“ das Naheliegende, nichts mit Greatest Hits of the Harbor and the Sea. Er legt den Schwermatrosen – darunter Graham Valentine, seine schottische Lachmöwe – traurige und eher unbekannte Noten in den Mund. Der Abend schreit nach Kitsch, nach mehr Emotion, nach Oper, doch für die große Ausfahrt haben diese trüben Fischer, die sich am Ende hinter rotgesichtigen Seemannstotenmasken verstecken, nicht mehr die Kraft. Sie gingen wohl zu oft schon über Bord.

Das Meer. Und das Theater. Marthaler, der musikalische Clown, ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten mit seiner Litanei des Stillstands zur sympathischsten Galionsfigur der zeitgenössischen Bühne geworden. Nichts geht mehr – aber das gewaltig. Wir haben Flaute, und keiner versteht es so wie er, sich in der Langeweile einzurichten und das Publikum zu hypnotisieren. Man lässt es zu, man sehnt sich danach. Nicht immer. Aber immer weniger.

Rüdiger Schaper

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