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Kultur: Ein Säugetierleben

Das Leben Jesu? Nein, von Jesus ist in diesem Film niemals die Rede (und hoffentlich schadet der Titel seiner Verbreitung nicht).

Das Leben Jesu? Nein, von Jesus ist in diesem Film niemals die Rede (und hoffentlich schadet der Titel seiner Verbreitung nicht).Es gibt zwar das Bild "Die Auferstehung des Lazarus" im Klinikzimmer eines Aidskranken, und es gibt die Stummelsätze, mit denen sich die Jungs aus der Clique darauf aufmerksam machen und wieder von ihm und irgendwann auch von dem Sterbenden abwenden.Aber da geht es eindeutig um Lazarus, nicht um Jesus.Und es gibt Kader, den schönen, tiefäugigen Sohn eingewanderter Nordafrikaner, der keinerlei Zeichen von Gegenwehr zeigt, als ihn dieselben Jungs eines Tages zu Tode treten, draußen auf den Feldern.Aber Kader ist nicht Jesus Christus, sondern Kader.Und dann gibt es noch Freddy, der seine Tage unter dem bleichen Himmel des nordfranzösischen Provinzstädtchens namens Bailleul hinbringt, einer, dem der Schmerz im Gesicht sitzt alle Zeit und der doch niemals schreit.Aber Jesus? Wohnt nicht mehr hier (wenn er denn jemals lebte auf dieser Erde).

Und doch.Bruno Dumonts erster Film - lassen wir die paar Industrie- und Werbefilme des 40jährigen Franzosen mal beiseite - ist ein Passionsspiel, ein Spiel um eine Leidenschaft, für die die Beteiligten kaum Wörter haben, ein Gang nach Golgatha, der Weg eines Verurteilten, der Unverzeihliches getan hat und dem man doch in einem jenseitigen Sinn zu vergeben bereit ist.Denn der arbeitslose Freddy (David Douche; ein Arbeitsloser aus Bailleul, ebenso wie einige andere Darsteller dieses Films) tötet Kader (Kader Chaatouf), weil der ihm Marie (Marjorie Cottreel) weggenommen hat.Daß er sie am Ende verliert, geschieht ihm recht.Und doch hätten wir zunächst gewünscht, daß einer wie er eine wie sie hätte halten können.

Freddy stürzt von Anfang an.Stürzt vom Moped - holt sich Schürfwunden, die immer auf seinem weißen, weichen Körper sind, winters wie sommers, Wundzeichen, Male seiner Epilepsie, die ihn überfällt.Und fällt, nach einer Aufregung, nach einem Abenteuer, nach rüdem, stummem Sex mit Marie.Seine maskenhafte Häßlichkeit, das winzige Zärtlichkeitsblitzen in den Augen, in denen nichts bettelt, aber alles will: Auch sein Gesicht stürzt fast aus der Leinwand, umstandslos in unser Gedächtnis hinein.Doch eines Tages wird Freddy, nachdem alles getan und verbrochen und unsühnbar ist, nur wieder mit seinem Moped in ein Kartoffelfeld stürzen und liegenbleiben und in den leeren Himmel sehen.

In einer der vielen seltsam schönen Szenen des Films sitzen Freddy und Marie in einer Gondel, die erst Karussell ist und später eher industriell, Fahrkorb zu irgendeiner längst abgeräumten Abraumhalde.Sie schweben über einer Landschaft, die Alain Tanner für seine frühen Filme erfunden haben könnte, weiche Wellen der Erde, Weite und Grau und Grün.Freddy will nach Lille, weg aus dem Backstein-Bailleul, durch das er tagein tagaus mit seinen Moped-Kumpels braust, lärmend auf der Flucht vorm Zeittotschlagen und ohne Ziel.Aber Marie meint, in Lille sei es auch nicht besser als in Bailleul.Und weil Marie Supermarktkassiererin ist und er arbeitslos, und weil er Marie liebt und sie in der Mansarde von Mamas Kneipe "Au petit casino" lieben darf, wann immer sie beide wollen, heftig und ungestört, bleibt er in Bailleul.

Jetzt könnte man schreiben: Also nimmt das Drama seinen Lauf.Ein Drama? So unauffällig baut sich das auf, so wortlos steuert es auf seinen Höhepunkt zu, so stumm wird es vollzogen.Die sexuelle Attacke auf eine kleine, dicke Majorette - zuallererst ein Imponiergehabe der Clique; das verdruckste araberfeindliche Fascho-Wort, als Kader und seine Eltern in der Kneipe sitzen - zuallererst ein Imponiergehabe vor der Clique; Maries Scham, als sie Kaders Annäherung so grob versteht, wie sie ihren Freddy zu begreifen gewohnt ist; und wie dieses Säugetierleben auf einmal nicht mehr genügt, diese einander mißverstehenden, weil nur aneinander saugenden Menschen, diese aneinander nur festgesogene Nähe.

Es gibt Filme, deren Inhalt erzählt man herunter, wie man Farbe von einer Leinwand wäscht.Wer es hier versuchen wollte, nähme ihm zugleich nichts.Sein Geheimnis liegt nicht in der Geschichte, sondern in den Blicken, den Bildern, dem Voreinandersein und Ineinanderfallen, in dem Krach der Mopeds und ihren sinnlosen Ellipsen um die Stadt, und in mitunter vollständiger Stille.Keine Musik hebt an, wenn es gewalttätig wird, und die Kamera kann es sich sogar leisten, wegzuschwenken in Himmelsblässe, wo doch alle Kameras der Welt sich heranzoomen an die Blutlachen dieser Welt.Nur einmal, wie nachgeliefert, will der Film sich selbst erklären, es ist nur ein Satz.Sein letzter - und der einzige wirklich schlechte.

Im Central und im fsk am Oranienplatz (beide OmU)

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