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Kultur: "Ein springender Brunnen" verteidigt erneut die Kindheit

Ein Leben, ein Schriftsteller-Leben lang hat Martin Walser beharrlich behauptet, daß eine Sprache nicht lügen könne: die Sprache der Kindheit, die Mutter-Sprache, die Vater-Sprache, der Dialekt, die heimatliche Mundart.Während in der Hochsprache, dem Hochdeutschen, Lügen möglich, ja unumgänglich sind, die Phrasen lauern, die sprachlichen Lügen und Verstellungen - die eine, die ursprüngliche, die einem sozusagen mit der Muttermilch eingeflößte Sprache, sie lügt nicht, sie kann gar nicht lügen, weil in ihr die Unschuld der Kindheit und der Herkunft wohnt: Und die kann gemein, grausam, verletzend sein - unwahr aber nicht.

Ein Leben, ein Schriftsteller-Leben lang hat Martin Walser beharrlich behauptet, daß eine Sprache nicht lügen könne: die Sprache der Kindheit, die Mutter-Sprache, die Vater-Sprache, der Dialekt, die heimatliche Mundart.Während in der Hochsprache, dem Hochdeutschen, Lügen möglich, ja unumgänglich sind, die Phrasen lauern, die sprachlichen Lügen und Verstellungen - die eine, die ursprüngliche, die einem sozusagen mit der Muttermilch eingeflößte Sprache, sie lügt nicht, sie kann gar nicht lügen, weil in ihr die Unschuld der Kindheit und der Herkunft wohnt: Und die kann gemein, grausam, verletzend sein - unwahr aber nicht.

An diese Wahrheit sich heranzutesten, zu ihr zurückzufinden, ist schwer, obwohl es eine Heimkehr ist; eine Heimkehr aus der Sprach-Fremde, aus der Sprachentfremdung ist schön und schwer zugleich.Im Falle Walsers - und deshalb hat der Autor so lange gezögert, so lange gewartet - ist diese Rückkehr, die eine Rück-Beschwörung ist, besonders schwer, denn sie führt in eine Zeit, in der in Deutschland der Nationalsozialismus aufkam.Was heißt: aufkam? Die Macht ergriff und die Menschen an sich riß.Machte die Muttersprache da mit? Trat sie - wie die Mutter - in die Partei ein? Setzte sie sich, allen anderen äußerem Anschein, zu Wehr?

Walser mußte über 70 Jahre alt werden, um sich in einem Roman, der eher eine Kindheitsbeichte, eine Kindheitsbeschwörung ist, an seine Wurzeln zurückzuwagen.Ein Schriftsteller vom Bodensee war er immer, ist er immer geblieben.Ob seine Romane in der sogenannten großen Welt spielten, in Philippsburg alias Stuttgart (dem Stuttgart des beginnenden boomenden Wirtschaftswunder), ob seine Helden nach Amerika gingen - stets waren sie am Bodensee verwurzelt, hießen Halm oder Zürn, und wenn sie wirklich in der Fremde waren, dann waren ihnen die Wurzeln ausgerissen, sie waren dort nicht zu Hause, wo sie zu Hause waren, jetzt.

Jede Kindheit ist ein Idyll, heimelig und grausig zugleich.Heimelig weil man geborgen ist - auch in der Sprache.Grausig, weil man unterworfen ist.Auch der Geschichte.Man kann sich nicht auswählen, ob man sechs oder sieben Jahre alt ist, wenn in Deutschland eine "völkische Erhebung" stattfindet.Man kann es sich nicht aussuchen, daß man die Pubertät und die erste Liebe durchlebt, wenn der totale Krieg ausbricht oder zusammenbricht, der Bruder fällt, der eine Schulfreund Nazi wird (weil sein Vater ein Nazi-Funktionär ist), der andere ausgestoßen wird, weil er kein "Arier" ist.

Ein Kind, ein Aufwachsender erlebt die Kindheit dennoch als seine Kindheit; er richtet sich, ganz notwendigerweise Egoist und auf die eigenen Freuden und Leiden angewiesen, in seiner Kindheit ein: und sie ist schön und reich und voller neuer Erfahrungen - egal wie schrecklich sich im Nachhinein die Welt, in der man aufwachsen mußte, erweist.

Es gibt keine Gnade der Geburt.Man wird geboren.Und vielleicht hat Walser deshalb gezögert, über seine Kindheit, über sich selbst einen "Roman" zu schreiben, weil er seine Kindheit liebt, weil er zu ihr halten wollte, ein Leben lang - was auch immer sie in einem historischen Zusammenhang sein mochte.

Und so erzählt er, so spricht er vom größten Halt, so erzählt er von der Sprache.Er erzählt von der Sprache seiner Kindheit.Von den Liedern, den Liedertexten, den Schlagern, den Redensarten.Und immer wieder erzählt er vom Dialekt, von dem er inbrünstig glaubt, daß er sich der politischen Realität sperrig, wie ein Hindernis in den Weg gestellt hätte.Bei Walser tauchen die dummen und brutalen Phrasen noch einmal auf, die damals im Schwange waren - und er läßt sie sich an der Unbekümmertheit, an der dörflichen Unschuld Wasserburgs blamieren.

Wirklich? So sehr es Walser mit der Wahrheit und dem Trotz des Erinnerns gelingt, zu zeigen, daß eine Kindheit nicht anders, nicht viel anders verläuft, wenn die Kinder Jungvolk-Uniformen tragen, völkische Aufsätze schreiben und erleben müssen, wie der liebevolle großzügige Paten-Onkel wegen seiner Neigungen (er war ein Homosexueller, ein "175er", wie man das damals nannte) ins Gefängnis geworfen wurde - die Summe der Freuden und Leiden einer Kindheit bleibt die gleiche.

Die Mutter wird nicht "schlechter" dadurch, daß sie aus kühlem Kalkül und nackter Existenzangst in die "Partei" eintritt: um ihre Gastwirtschaft vor dem Ruin zu retten, also aus blanker Existenznot, die man natürlich auch Opportunismus nennen kann.Und der (frühverstorbene) Vater wird nicht "besser" dadurch, daß er früh weiß: Hitler, das ist der Krieg.Vielleicht wird er sympathischer, weil er ein Versager ist, der mehr an Wörter glaubt, sich Träumen und Illusionen hingibt, weil er krank und schwach ist und seinem Sohn dem "Wörterbaum" hinterläßt, von dem der seine Sprache gewinnen kann, die ihn zum Schriftsteller machen wird.

Aber hat sich das Wasserburg-Idyll mit seiner der Armut und Arbeit verhafteten Menschen wirklich dem Nationalismus stärker widersetzt, schon allein dank der Heimatsprache? Mir fallen dazu, und ich weiß, daß das unfair ist, einfach ein paar Namen ein.Mengele zum Beispiel.Ist man als Mengele besser dran und mehr gefeit, als wäre man als Goebbels oder Heydrich auf die Welt gekommen? Schützt der Bodensee, schützt Wasserburg und seine schöne, den Menschen alle Kraft abfordernde Natur, schützt das den Menschen stärker vor dem rassistischen Hurra-Schreien, hält sie nüchterner? Ich glaube kaum, so sehr Walser beschwörend diesen Eindruck hervorrufen möchte.

Das Buch ist, um einen anderen Walser-Titel zu zitieren, eine "Verteidigung der Kindheit"."Ein springender Brunnen" (Suhrkamp, 416 Seiten) ist Walsers Verteidigung der eigenen Kindheit.Es gibt nichts, was es mehr wert wäre, verteidigt zu werden.Schon aus Selbstschutz.Verteidiger dürfen schön färben.Vor allem, wenn es um die Liebe geht.Um die zur Mutter, um die zum Vater, um die erste Liebe.So ist Walsers Buch schön, es ist eigentlich immer schön.Aber ist es auch immer wahr.Und wohnt schön nicht auch bei Schönfärberei, auch beim Aufschminken und Verklären? Auch Armut und Kargheit lassen sich verklären - die besonders.

Walser ist natürlich ein so sprachempfindlicher Autor - der sensibelste Sprach-Seismograph unter den deutschen Schriftstellern, daß ihm wunderbare Funde und Erkenntnisse glücken.Wenn beispielsweise der Ortsgruppenleiter Herr Brugger nicht mehr in die Kirche geht, "seine Kirche sei der Wald, da sei er seinem Herrgot am nächsten" und Walser fortfährt: "Er sagte immer: Mein Herrgott.Die Mutter sagte immer: Unser Herrgott", so ist in den Sätzen die Spannung zwischen der katholischen und der Nazi-Welt wie in einem Brennglas eingefangen.

Walsers Kindheitsroman ist ein schönes Buch, Walser kann sich mit der Kraft der Erinnerung an seine erste Liebe erinnern; es war die Liebe zu einer Zirkuswelt, zu einer Kunst-Welt, zu einer Künstlerwelt, der er sich nie wieder, ein Leben lang, entzogen hat."Unordnung und frühes Leid" nannte Thomas Mann eine Kindheitsbeschwörung.Walsers frühe Jahre ließen sich als "Ordnung und frühes Leid" beschreiben.Da seine Kindheit zwischen 1933 und 1945 spielt, also in einer ziemlich, um es vorsichtig zu sagen: unordentlichen Zeit, ist das schön und schrecklich zugleich.Walser möchte Frieden mit seiner Kindheit schließen - so als ob sie das verdient hätte.

HELLMUTH KARASEK

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