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Kultur: Ein Symbol wird gesprengt

"Der Abstich": Joachim Tschirner dokumentiert den Abriß einer thüringischen StahlhütteVON KAI MÜLLERDas Schlußbild zeigt einen Schornstein majestätisch zur Seite stürzen.Eine Sprengladung hat seine Fundamente erschüttert und er wankt und sackt weg.

"Der Abstich": Joachim Tschirner dokumentiert den Abriß einer thüringischen StahlhütteVON KAI MÜLLERDas Schlußbild zeigt einen Schornstein majestätisch zur Seite stürzen.Eine Sprengladung hat seine Fundamente erschüttert und er wankt und sackt weg.Das ist das Ende.Eine ganze Region verliert ihr Symbol, auf dem zuletzt in großen Lettern VEB stand.Einhundert Jahre lang hat die Maxhütte im thüringischen Unterwellenborn das Selbstverständnis der Menschen geprägt.Jetzt muß sie einem modernisierten Werk weichen, das eine luxemburgische Unternehmensgruppe am gleichen Ort aufbaut.In vier Dokumentarfilmen hat Joachim Tschirner seit 1986 den Alltag der Menschen beschrieben, die hier über Generationen im Schatten der Hochöfen gelebt haben.Als 1992 die weitgehende Stillegung des Werkes beschlossen wurde, kehrte Tschimer mit seinem Partner Burghard Drachsel in die Maxhütte zurück, um in einem fünften Film auch ihr letztes Kapitel festzuhalten.Sie wollten den letzten "Abstich" erleben, bevor die Hochöfen für immer gelöscht wurden.Denn ein "Abstich" ist für die Stahlarbeiter ein besonderer Augenblick, bei dem alle drei bis vier Stunden das im unteren Teil des Hochofens angesammelte flüssige Roheisen abgegossen wird.Die beiden Filmemacher erzählen in fünf Einzelporträts, wie die Menschen mit der neuen Situation fertigwerden, wie sie Zukunftsperspektiven entwickeln oder zur Untätigkeit verdammt bleiben und verkraften müssen, daß ihre Ausbildung keinen Wert mehr hat.Es ist der Versuch, die sozialen Tatsachen hinter Formeln wie "reduzierte Strukturen" und "soziale Abfederung" zu entdecken.Von 6000 Beschäftigten haben nur 650 ihren Arbeitsplatz in den automatisierten Fertigungsstätten behalten.Frauen und im Werk altgewordene Männer, die 30 bis 40 Jahre in dem Werk gearbeitet haben, sind nicht darunter.Sie demontieren stattdessen, was einmal ihre Arbeitsplätze gewesen sind.Und diejenigen, die sich weigern, ihr Lebenswerk einzureißen, kommen doch immer wieder, um mitanzusehen, wie ein Teil der Anlage in die Luft fliegt.Ein Leitmotiv des Films ist das Gemälde "Aura der Schmelzer", das unter der sozialistischen Parole "Max braucht Kunst" entstanden war und eine Schmelzerbrigade porträtiert, die sich im Stil der Musketiere die Treue hält."Die Legenden sind wertlos geworden", heißt es, und doch will der Film sie weitererzählen.So helfen die ehemaligen Schmelzer dem kranken Maler, den sie einst in die Brigade aufgenommen hatten, sein Atelier auszuräumen und in eine Plattenbauwohnung zu ziehen, wo er nicht mehr wird malen können.Aber die Sorgen der Leute sind nur die Mikrostruktur des Schicksals.Die Makrostruktur verkörpert der luxemburgische Top-Manager, unter dessen Leitung das neue Werk entsteht.Er beschreibt die Modernisierung der alten Hütte als ein "Experiment", denn was in Thüringen geschieht, wird sich andernorts wiederholen.Niemand bleibt verschont, auch der Manager selbst nicht, der unablässig von einem maroden Stahlgiganten zum nächsten zieht.Tschirner und Drachsel begreifen den Zusammenbruch als Beginn vieler kleiner Aufbrüche, was ihrem Film eine sympathische Note verleiht.Außerdem spürt man, daß sie fasziniert waren von der aufrichtigen Herzlichkeit einfacher Arbeiter.Eine Welt, die so frei ist von komplizierten Regungen, hat es nicht verdient, sich dem Leistungsdruck des neuen Systems aussetzen zu müssen. im Toni

KAI MÜLLER

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