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Kultur: Ein Traum, was sonst

Simon Rattle dirigiert in Luzern die Uraufführung von Hans Werner Henzes zehnter Sinfonie

Von Christine Lemke-Matwey

Manches ist in der Schweiz eben ein bisschen anders. Die Berge sind höher, die Seen tiefer, die Konzertsäle schicker – und die Saaldiener unerbittlicher.

„S’isch nöd erlaubt, d’Plätz’ z’wechsle.“ Streng schaut er drein, der junge Mann mit dem Igelschnitt. Ich versuche in Erfahrung zu bringen, was dagegen spricht, dass ich mich von der zweiten Reihe Galerie in die nahezu leere erste Reihe gesetzt habe, um mehr zu sehen vom City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) – und wie Simon Rattle sich an diesem „historischen“ Abend den Weg durch seine alte Familie bahnt.

„Nei, s’isch nöd erlaubt. S’isch en andere Prisklasse.“ Ich führe an, dass ich von Berufs wegen (was zweifellos ein Privileg ist) gar nichts zahlen muss für welchen Platz auch immer. Das spornt meinen Widersacher nur weiter an. „Was hättet’ Sie denn g’macht, wenn d’Lüt no wäret cho, hä?“ Ich versichere, dass ich in diesem Fall ohne Murren gewichen wäre. Triumphierend fällt der Saaldiener ins Schriftdeutsche: „Und dann haben wir hier im Saal überall solches Geläufe, und das ist dann suprr, oder?“

An dieser Stelle setzen die von Jean Nouvel, dem Architekten des 1998 eingeweihten Kunst- und Kongresszentrums Luzern, eigens designerten Lichterspiele ein, welche den Beginn des Konzerts verheißen: Das Raumlicht des Weißen Saals erlischt, über den Galerien flackert es kurz nachtblau auf, die Saaldecke illuminiert ihr Sternenzelt – und Welt und Saal und Mensch versinken in noblem Dämmerschein. Er glaube nicht, wird Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival (das vor seiner Zeit ganz brav Internationale Musikfestwochen Luzern hieß), am nächsten Tag sagen, dass dieser Moment, dieses sich Einschwingen auf das Ereignis Musik durch irgendetwas zu ersetzen sei. Im Übrigen halte er nicht allzu viel vom Aufbrechen der Gattungsgrenzen, vom Mäandern an musikferne Orte, vom Vermischen der Formen um des bloßen Vermischens der Formen willen: „Die Notwendigkeit und die Qualität, die müssen stimmen. Schließlich ist die Akustik in unserem Saal immer besser als, sagen wir, in einer U-Bahn-Station.“

32 Sinfonie- und elf Kammerkonzerte mit insgesamt elf Uraufführungen, allerlei Modernem und sogar ein klein wenig Alter Musik, acht Festival-Debüts, zwei composers in residence (nämlich Pierre Boulez und Olga Neuwirth), einem artiste étoile (nämlich Alfred Brendel), einer Musiktheater-Premiere, einem Symposium und viel sonstigem Beiwerk – allein die Masse des Faktischen scheint Haefliger in seiner vierten Saison Recht zu geben. Ob er eine Chance sehe, der Globalisierung des Klassik-Betriebes auf Dauer zu entkommen und in Luzern jenseits aller ruhmreichen Großklangkörper und ruhmreichen Maestri wie Levine, Gergiev, Chailly oder Jansons etwas Unverwechselbares zu schaffen? Haefliger, der Bedächtige, reagiert überraschend schnell. Das Festival müsse wieder intimer werden, der Austausch mit den Künstlern intensiver. Und das Zeitgenössische, ja, das liege ihm extrem am Herzen. Boulez, Henze, Stockhausen – der ganze „Himalaya der Moderne“. Der müsse erklommen werden, endlich.

In der Schweiz, wie gesagt, ist manches anders. Man bekommt, was einem zusteht und wofür man bezahlt hat. Diese Wahrheit, sie ließe sich umstandslos auch auf Hans Werner Henzes zehnte Sinfonie anwenden (insofern ist der Ort sinnträchtig gewählt!), die Simon Rattle und das CBSO an diesem Abend unter Jubel und zwei zaghaften Buhs aus der Taufe heben. Ein beladenes und zugleich seltsam schwereloses, freies, aller Zeit entrücktes Stück: Beladen vom Mythos der Musikgeschichte, der da sagt, dass zehnte Sinfonien stets von letzten Dingen zu künden hätten, vom Nahen des Todes und also von einem dem Schicksal abgetrotzten Leben nach der Neunten – Beethoven, Schubert, Dvorak, Mahler und Bruckner legen davon in schönster romantischer Tradition Zeugnis ab. Und beladen auch und nicht zuletzt von seiner eigenen Biografie: Vor vielen Jahren nämlich saßen Henze und Rattle einmal in London beisammen, und der Dirigent sagte zum Komponisten, spaßeshalber oder ernst, wie wäre es, wenn Sie mich komponierten, mein Wesen als Klang, und Henze sogleich „Kristallines und Klares und Englisches“ in seinem inneren Ohr hörte, und sich, nachdem seine Neunte vollendet war, „allmählich und gemächlich“ ans neue Werk begab.

Als Auftraggeber fungierte der Schweizer Musiker und Mäzen Paul Sacher, der sich gerade nach Henzes Neunter – einer den Faschismus geißelnden Chor-Kantate nach Anna Seghers „Siebtem Kreuz“ – unter Umständen, wer kann das wissen, etwas ganz anderes, ungleich Politischeres, Engagierteres erwartet hätte als diese altersweise, altersresignative Zehnte. Nun, Sacher starb 1999, Henze durchbrach den Mythos – und befreite sich hin zu einem radikalen Individualismus. Im Blick auf den Finalsatz („Ein Traum“) etwa spricht er von einer Klanglichkeit, die „ganz weit entfernt ist von den Schrecken und Kümmernissen der Zeit, in der wir leben und sterben müssen und zu der einem wie mir nichts anderes mehr einfällt als die Ablehnung, die Abwendung, die Absage, der Abgesang, der Abschied.“

L’art pour l’art? Oder: Komponieren als Bekenntnis des Widerspruchs – in einer Zeit, die sich weder um Widersprüche noch um klassisch Komponiertes sonderlich schert? Der Elfenbeinturm als höchstes erreichbares Politikum? Auch Henze, der große alte Mann des 20. Jahrhunderts, schert sich in dieser Partitur um herzlich wenig. Nicht um Tonalität oder Atonalität und nicht darum, dass im Zeitalter des anything goes nur eines nach wie vor als verboten gilt: das sprichwörtlich Schöne, das unter Aufbietung aller Kräfte Schreckenlose und Schmerzfreie. Zu nichts Geringerem aber bricht der Komponist hier auf. Die vier Sätze seines 42-minütigen Werks („Ein Sturm“, „Ein Hymnus“, „Ein Tanz“, „Ein Traum“), sie mögen in der Abfolge ihrer Tempi, im Horizont ihrer Bezüge, im orchestralen Timbre so manches herbeizitieren, Mahler, Strawinsky, Honegger, Hartmann und Henze selber - eine eigene Gegenwart beschwören sie nicht.

Ob der Kopfsatz mit seinen manischen, immer wieder von fahlen, ockergelben Streicherflächen lahmgelegten Steigerungen nun alle Sturmmusiken der Vergangenheit versammelt, oder der dritte Satz, die Scherzo-Position, mit fratzenhaften Rhythmen, exotischem Buschtrommelfeuerwerk, Klavier und Celesta einen Vorder- und einen Hintergrund aufmacht, Fremdes und Vertrautes konfrontiert, Gewusstes und Verdrängtes – nie kommt es hier zur Berührung oder gar zur neuerlichen Befruchtung.

Wie die Streicher fugenartig und mit einem insinuierenden Dreiklang-Motiv im „Tanz“ selige ewige Ruhe zu atmen scheinen, und der Rest des Apparates immer erst dann dazwischenblitzt, sobald sie tatsächlich ausgeatmet haben, so dividiert Henze das Gemischte des Lebens und der Musik auseinander. Das Schöne, es sei vollkommen und fortan ohne doppelten Boden. Eine Utopie des Willens?

Auch der „Hymnus“ des langsamen Satzes, eine reine Streicherstudie, die in ihrer manischen Gelassenheit an Strauss’ „Metamorphosen“ denken lässt und in ihrem Ächzen bisweilen an Bergs „Wozzeck“, auch sie glaubt an keine Aufklärung mehr, will im Lobgesang nicht länger Verborgenes wittern. Das Finale schließlich, jener „Traum“, wallt schwerblütig und leichtfüßig zugleich aus tiefstem Seelengrunde auf, scheut die Apotheose nicht – und verklingt, crescendo, decrescendo, immer gleich. So wie übrigens alle vier Sätze verklingen, ja förmlich wegdämmern. Als hätte es sie gar nicht gegeben. Als hätten wir uns verhört. Als wären Simon Rattle und die Musiker aus Birmingham, die ihre Sache gut machen, ebenso eine Einbildung der Sehnsucht wie Henze selbst, der sich am Ende wie ein Buddha für sein ganzes Lebenswerk verbeugt.

Dem Saaldiener ist dieses alles naturgemäß egal. Er notiert meine Personalien. Mich aber lässt den ganzen Abend (im zweiten Teil gab’s passenderweise Strauss’ „Heldenleben“) das Gefühl nicht los, Entsetzliches verbrochen zu haben und jeden Moment von drei Berner Sennenhunden abgeführt und der Fremdenpolizei überstellt zu werden. Das ist nicht passiert. Und genau das ist wahrscheinlich das Problem, mit der Schweiz und mit dem Anderssein. Und mit dem Abschiednehmen von der Welt.

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