Kultur: Ein Weg zum Meer
Von Nicholas Shakespeare
An diesem Morgen, dem letzten des Jahrhunderts,
Machte ich deinen Strich zu meiner Zeile.
Du hast gezeichnet, gabst Papierhunden Leben und Gebell;
Und ich im opossumverseuchten Verschlag unten
Fummelte inzwischen an einer Einleitung zu
Schall und Wahn,
Aus dem Bauch heraus geschrieben, wie’s sich für Romane gehört.
Wie so oft, versank ich in dem, was gesagt werden musste,
Ich war, um dein Wort zu gebrauchen, verstopft.
Also suchte ich dich hinter dem Fenster,
Wo du an unserem ersten Tag eine Schwalbe sahst,
Die ins Durchsichtige krachte und einen Atembogen auf dem Glas
hinterließ,
Und ich sagte: Hilf mir.
Du hattest deine eigenen Probleme zu lösen,
Aber du legtest deinen Stift hin und entwirrtest meine Absicht,
Du gabst mir die Worte.
Ich bin viele Pfade hinabgestürmt, bevor ich dich traf.
Es gab die Morgen, an denen ich unter mir das Meer sah,
Ein sauberes Tuch, in Richtungen gestrafft, die ich eingeschlagen wollte.
Es gab Nachmittage, an denen ich hörte,
Dass es alles flüsterte, was ich glaubte hören zu müssen.
Die meisten Fährten verloren sich wie Keuchen,
Während sich einige zu Steilklippen über der Gischt weiteten.
Tatsächlich lief ich viele Wege,
Doch das Meer erreichte ich nicht,
Obwohl ich ein- oder zweimal in sein Glas krachte.
Ich brauchte vierzig Jahre, um eine Wahrheit zu verstehen,
Die einfach ist wie Vogel-Atem:
Wenn du in alle Richtungen fliegst
Oder leichtgläubig jedem Lied zuhörst,
Ist das nicht gut.
An diesem Abend, fünfundzwanzig Minuten
Vor Beginn des neuen Jahrtausends,
Folgte ich deiner Fackel aus dem Haus.
Gegen den kräftigen Pinsel aus Licht
Erkannte ich die Schlittschuhläuferin in dir,
Die anmutig durch Quecken glitt,
Als wäre der Sand unter deinen Füßen Eis.
Absichtlich führtest du mich am Purpur-Eukalyptus vorbei,
Zum Gedenken an einen Freund gepflanzt, an der Bohrpumpe,
Der Hängematte, in der ich Faulkner gelesen hatte,
Bis du den Pfad fandest, der durch
Eine Schneise von Boobyallas
Zum Meer führte.
Die Natur hatte sich zu diesem Anlass nicht verändert.
Der brummelnde Wind entfachte ein Freudenfeuer bei Coles Bay.
Wir konnten die Sterne nicht sehen,
Nur das ruhelose Flackern der Seepferde,
Die auf uns zu ritten, erschöpft.
Vor unsere Füße entluden kalte Wellen Algenhaufen,
Geruchlos, feucht und rot, sie erinnerten mich an Zeugs,
Das ich mir im Traum vom Mund abkratzte.
Du hobst die Fackel und das Seegras verlängerte sich zu Knochen.
Wir sahen die gesamte Nine Mile Beach mit ihm bedeckt,
Als hätte das Meer den Schutt unseres Jahrhunderts ausgespieen,
Alles, was wir einander angetan haben.
In den verbleibenden fünf Minuten küsste ich dich
Und küsste dich ins nächste Jahrhundert.
Später sahen wir orangene Flammen,
Wie sie sich über die Landzunge ausbreiteten.
Wir schliefen nicht, bis wir sicher waren,
Dass ihr Feuer nicht in unsere Richtung kam.
Am ersten Morgen des neuen Jahrtausends
Rief ich meine Großmutter am anderen Ende der Welt an.
In West Malvern war es noch gestern – noch eine halbe Stunde.
Meine Großmutter grummelte, weil sie geweckt wurde.
„Liebling, ich bin sechsundneunzig“, sagte sie.
„Wenn du erst sechsundneunzig bist,
Bedeutet dir ein Jahrtausend nicht besonders viel.
Wie geht’s denn deinem netten Mädchen?“
Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan
Der Brite Nicholas Shakespeare, geboren 1957, liest am 13. 9. aus dem Roman „Sturm“ (21 Uhr, HdBF), am 14. 9. aus seiner Chatwin-Biografie (20 Uhr, Hôtel Concorde).
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