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Kultur: Ein Winternachtstraum

Furioser Beginn in Zürich: Jutta Lampe spielt Ibsen, Matthias Hartmann inszeniert das neue Liebesdrama von Botho Strauß

Ein Paar, Mann und Frau, erschöpft von ihren ehelangen Liebeskriegen, hat sich in einer Winternacht doch wieder zusammengefunden für einen neuen Anfang. Da stehen sie entgeistert bleich, mit ausgewischten Gesichtern, jeder ein Häufchen Phönix aus der Asche des Begehrens, und die Schauspielerin Corinna Kirchhoff sagt, „dies wird ein langer, langer Abend“. Es ist der Schluss-Satz des neuen Stücks von Botho Strauß mit dem elegisch schönen Titel „Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte“.

Das Endspiel der beiden könnte nun in die – wie bei allen wirklich Liebenden – nie endende Nachspielzeit. Wo Strauß sein Drama aber mit einem Fragezeichen endet, setzt Corinna Kirchhoff in der Züricher Uraufführung einen Punkt. Als sei der Neuanfang zugleich ein Abschied.

Diese Deutung wirkt klug, kühn – und gewagt. Denn das Strauß-Stück ist zugleich die Einstands-Inszenierung des neuen, von Bochum ans Zürcher Schauspielhaus gewechselten Theaterdirektors Matthias Hartmann. Ein riskanter, am Ende bejubelter Beginn, nachdem schon am Vorabend viel Lieb- und Lebensleid für beste Stimmung sorgten. So kann Theater sein.

Hartmann hatte vor seiner Premiere der Schweizer Regisseurin Barbara Frey das Recht der ersten Nacht gelassen. Und auch sie inszeniert ein seelenschwarzes Endspiel als Vorspiel; freilich so dicht und spannungsvoll, dass das von Berlin bis Wien aus aller deutschen Theaterwelt angereiste Publikum in schönster Düsternis gleich dachte: Das kann ja heiter werden!

Tatsächlich hat Barbara Frey mit ihrer Version von Ibsens „John Gabriel Borkman“ alle verblüfft. Und mit ihrer Besetzung ein bisschen Theatergeschichte geschrieben. Jutta Lampe nämlich, die einst als junger Stern mit Peter Stein und Bruno Ganz & Co. von der Zürcher Kulturpolitik vertrieben wurde (was dann zur legendären Geburt der Berliner Schaubühne führte), sie ist nun nach fast vier Jahrzehnten als Ibsen-Spielerin triumphal gefeiert ins Zürcher Ensemble zurückgekehrt.

Wer Klassiker im heutigen Theater nur noch als Tartar mit sauren Gurken aus der Jetztzeit kennt, der hat viel zu kauen und zu staunen über das, was Barbara Frey als „Borkman“ serviert. Die Bühne von Bettina Meyer ist mit grässlich braunem Noppenpolster ausgeschlagen, fensterlos dicht, das fast unmöblierte Borkman-Haus eine einzige Gummizelle. Borkman war fünf Jahre als Millionen veruntreuender Spekulant, Frühglobalist und Größenwahnsinniger im Gefängnis gesessen, und seine Haft setzt sich hier fort. Es herrscht ewiger Winter, und Borkmans verbitterte Frau Gunhild kämpft mit ihrer weltläufigen, warmherzigeren, aber todkrank angereisten Schwester Ella um den Sohn des Geisterhauses.

Diesen Zweikampf vollführen Barbara Nüsse (Gunhild) und Jutta Lampes Ella mit unerbittlicher, virtuoser Insistenz. Die eine schmallippig, aus ihrem Lebensfrost nur mal mit einem meckernden Altmädchenlachen ausbrechend, als knacke es im Seeleneis; die andere, Jutta Lampe, zeigt als todgeweihte Kameliendame im eleganten Pelzkragen noch einen Abglanz jener Liebe, die sie von Borkman, der sie einst verriet, auf den Borkman-Sohn, ihren Neffen Erhart, überträgt. Erhart jedoch (Nicolas Rosat), der zur Winterwolle heutige Turnschuhe trägt, sucht mit seiner in lachsfarbenen Schlaghosen und poppigem Pelzjäckchen aufkreuzenden Freundin Fanny Wilton (Friederike Wagner) schnell das Weite.

Ansonsten sind Spieler und Zuschauer eingesperrt in diese geschlossene Gesellschaft erloschener Seelen. Als ihr Oberzombie haust im ersten Stock Borkman. Während sich Frau Gunhild auf ihrem einzigen Sessel im Parterre verkrümmen muss, richtet sich droben Thomas Thieme in der Titelrolle noch einmal auf: kalt schwitzend, dröhnend leise, in seiner Magnaten-Manie nur noch begleitet vom schrathaft kauzigen Adlatus Foldal (Siggi Schwientek als Spitzweg-Figur). Ein implodierender Vulkan.

Dieses psychologische, im Unglücksspiel manchmal grotesk komische Menschentheater, das sich kein distanzierendes Augenzwinkern ins Publikum gönnt, riskiert in seinem Mausoleum auch einen Hauch Museum. Mitunter wünscht man sich dann, dass so viel Schauspielkunst an einen etwas welthaltigeren Text verwendet worden wäre. Erst am Ende öffnet sich die Szene, für Borkmans Ausbruch in die Winternacht; und wenn er stirbt, hört es auf zu schneien und die alten Feindschwestern kommen sich näher im Schnee. Im Kalten Frieden.

Frank Castorf hatte den „Borkman“ Anfang der Neunziger am Deutschen Theater Berlin noch mehr ins Fantastische geweitet, Luc Bondy ihn mit Michel Piccoli als Hauptdarsteller auf Französisch noch härter, abgründiger vorgeführt. Aber Barbara Frey, die zuletzt am Deutschen Theater „Minna von Barnhelm“ raffiniert eingeschwärzt und bei den Salzburger Festspielen die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ins grellste Licht gerückt hat, ihr ist in Zürich unter Verzicht auf alle äußeren Effekte ein großer kurzer Wurf gelungen. Nur eine halbe Stunde mehr dauert dann die Uraufführung des neuen Strauß-Dramas. Doch gleicht jenes pausenlose, zweieinhalbstündige Nachspiel der Liebe einer unendlich weiten Reise. Wieder allerdings beginnt es in einer Winternacht, im Seelenfrost.

Professor Astel und seine Frau Kiro hocken in ihrer Villa an getrennten Tischen beim Frühstück; draußen schneit es und drinnen, in ihren Köpfen und Herzen, auch. Astel, ein Urbanist, hat für betuchte und sicherheitsbesorgte Bürger das bewachte Wohn-Resort mit Namen „Beaumonde“ erdacht. Diese schöne neue Welt verkauft er mit dem anzüglichen Slogan „Andere haben Visionen, wir schaffen Lichtblicke.“ Nur seine Ehe ist darüber blinde Trübsal geworden, Gattin Kiro hat er gar aus der eigenen Firma geworfen. Das kann nun Haushälterin Celia nicht mehr mit ansehen. Sie wird, wie eine Märchenfee, wie ein Shakespeare-Puck, zur Inszenatorin einer erotischen Wiedervereinigung. Dazu schickt sie Kiro und Astel durch allerlei Höllen der irdischen Liebe und Triebe: von der Villa hinab in die „Unterstadt“.

Diese Down Town, in der Astel auch sein „Beaumonde“-Büro mit vielen Angestellten hat, ist zugleich Halb- und Unterwelt: „Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte“ bedeutet eine neue Suche nach der verlorenen Zeit des Begehrens, und sie verläuft auf einer Bahn der schattenhaften Geister. Es ist eine Variation auch des Mythos von Orpheus und Eurydike, ein vom Strindberg zum Venushügel gelenktes Traumspiel, ein Stück Sommernachtstraum, erzählt als Wintermärchen.

Die Demiurgin Celia lässt Kiro, die Ahnungslose, den Geliebten ihres Mannes und des gemeinsamen Sohnes begegnen, dazu ihrem eigenen Abbild der Zukunft und den Gespinsten der Eifersucht. Mit ihrer neu erwachten Gier soll sie die Neugier des liebestauben Astel wecken, Love restored heißt Celias Projekt. Corinna Kirchhoff als Opfertäterin spielt das, erst auf hohen Hacken und mit hohen Tönen, dann barfüßig immer mehr geerdet, als große Passion: immer am Kreuzweg zwischen Verzweiflung und Hoffnung, mit dem Mut zum Pathos, das nicht Pathetik wird. Robert Hunger-Bühler als Herr Astel bleibt da nur Mitspieler, ein wenig sonor verträumt, doch im richtigen Augenblick präsent. Als erwachter Schläfer.

Neben den beiden Gefeierten wird die Uraufführung auch zum Triumph der Paarung Regisseur und Bühnenbildner. Kann man sich beim Lesen des Textes den oft bizarren Strauß’schen Szenenreigen noch kaum leibhaftig vorstellen, so muss man hier Matthias Hartmann und seinen Raumentwerfer Karl-Ernst Herrmann wegen ihrer ingeniösen Erfindungen bewundern. Sie haben den Schiffbau, eine ehemalige Industriehalle, die der im Streit von Zürich geschiedene genialische Hartmann-Vorgänger Christoph Marthaler einrichten ließ, längsgeteilt. Zwischen den beiden Zuschauertribünen bildet ein 20 Meter langes Hochpodest mit eingebautem Laufband und mobilen Glaswänden die Bühne. Etwa zwanzig Akteure spielen in offenen Verwandlungen schnell wechselnde Rollen, bedienen Schnee- und Windmaschinen oder fangen Mitspieler auf, die vom Laufband als Dämonen der großen Geisterbahn in den Orkus befördert werden.

Vom stahlverstrebten Bühnenhimmel fallen durchsichtige Hauszelte, ein Liebespaar in flagranti hat ein Betrogener in seiner „Netzhaut“ gefangen, es redet Kiros Totenkopf, zur ihrer Eifersucht auf einer Schiffsreise machen die anderen Spieler die Möwenschreie: täuschend echt – und zugleich ein Höllengelächter. Einmal zerfließen die an die Glaswände gepressten Gesichter des Ensembles mit verquetschten Nasen und Mündern zu Fratzen eines Bacon-Gemäldes; ein anderes Mal tritt Kiro den Kopf der frechen Ex ihres Sohnes (als ruhrpottgefärbte Wuchtbrummme: Lina Beckmann) durch die Speichen ihres Fahrrads – und eine Blase platzt, gefüllt mit Melonenfleisch. So einfach kann kompliziertes Theater, kann ein grausames Märchen sein.

Als Celia schafft es Karin Pfammatter von der Arrangeuse des Reigens noch nicht ganz zur Liebesmagierin. Aber sie geht auf im furiosen Ensemblespiel. Keine gewöhnliche Handlungsreise. Strauß hat eine wunderbar assoziative Theaterdichtung geschrieben. In Zürich sind daraus dramatische Bilder geworden.

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