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Mit der Scham der Überlebenden. Die Schauspielerin, Autorin und Regisseruin Marceline Loridan-Ivens im Januar 2015 in Paris.

© AFP

Eine Auschwitz-Überlebende erzählt: Das verlorene Goldstück

Marceline Loridan-Ivens hat den Holocaust überlebt und schreibt einen Brief an den ermordeten Vater: "Und du bist nicht zurückgekommen" ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Was hinterlässt ein Überlebender“, fragte der ungarische Schriftsteller Imre Kertész einmal. Und er sinniert darüber, ob die Leidensgeschichte eines ehemaligen KZ-Insassen nun die Menschheit bereichert oder nur Zeugnis ablegt von einer unvorstellbaren Erniedrigung, die keine Lehre enthält und deshalb rasch vergessen werden sollte. Der von vielen selbst empfundene Auftrag, Zeugnis abzulegen, wiegt umso schwerer, als er gepaart ist mit der vermeintlichen Schuld, angesichts überhaupt überlebt zu haben, und der sich daraus ergebenden Scham.

Die französische Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Marceline Loridan-Ivens, die 1963 dem berühmten Dokumentarfilmer Joris Ivens begegnete, ihn heiratete und mit ihm arbeitete, gehört nicht zu dieser Art Überlebenden. Sie hat sich, wie sie anlässlich der Vorstellung ihres Erinnerungsbuches „Und du bist nicht zurückgekommen“ im Jüdischen Museum stolz formulierte, „als Wasserträgerin“ der algerischen Befreiungsbewegung zur Verfügung gestellt und gehörte zur Pariser Linken der sechziger und siebziger Jahre, voller Enthusiasmus an die Veränderbarkeit der Welt glaubend und vor politischen Irrtümern nicht gefeit.

Mit 15 wurde Loridan-Ivens nach Auschwitz verschleppt

Dass sie nun, mit 87 Jahren, ein Buch vorlegt, das von ihrem eigenen Schicksal in Auschwitz-Birkenau handelt, wohin man sie als 15-Jährige 1944 verschleppt hatte, hängt damit zusammen, dass sie, wie sie eingangs schreibt, das Gefühl hatte, „hier keinen Platz mehr“ zu haben und einfach verschwinden wollte. Doch mit diesem Wunsch taucht noch einmal der geliebte Vater auf, mit dem sie zusammen ins Konzentrationslager kam. An seiner Prophezeiung, dass sie zurückkehren werde, während er Auschwitz nicht überlebe, trägt sie schon während ihrer Haftzeit schwer, und die Bürde begleitet sie ihr ganzes Leben.

So ist ihr in Briefform verfasstes Buch ein Selbstgespräch in Auseinandersetzung mit dem toten Vater. Als Ausgangspunkt dient zum einen ein Brief, den ihr der Vater in Auschwitz noch hatte zustecken können, der aber verloren ging und an dessen Inhalt sie sich bis auf die Anrede und den Schluss nicht mehr erinnern kann. Zum anderen ist da ein Goldstück, das sie beim Sortieren der Kleidungsstücke ermordeter Häftlinge gefunden und ihm hatte zukommen lassen wollen, von dem sie aber bis heute nicht weiß, ob es ihn erreicht hat. In diesen beiden Symbolstücken einer Vater-TochterLiebe, die gewaltsam abgewürgt wurde, kristallisiert sich Loridan-Ivens’ „Bindestrich“-Geschichte namens AuschwitzBirkenau.

Kleiderkammern, Krematorien: Immer wieder Erinnerungen an die Lagerrealität

„Wir gehen nach Pitschipoi“ hatte es geheißen, als die Juden vom französischen Internierungslager Drancy nach Auschwitz deportiert wurden, ein harmloses Wort für den schrecklichsten Ort der Welt. Szhlama Froim Rozenberg, ein polnischer Jude aus dem russisch besetzten Gebiet, der sich in Frankreich eine respektable bürgerliche Existenz mitsamt einem ländlichen Schlösschen als Wohnsitz aufgebaut hatte, bleibt in Auschwitz. Die Tochter wird ins Frauenlager der Todesfabrik Birkenau überstellt. Fortan bleibt die Ungewissheit über das Schicksal des jeweils anderen.

In ständigem Zwiegespräch taucht die Autorin immer tiefer ein in die Lagerrealität, die Zwangsarbeit in der Kleiderkammer und an den Krematorien, die auch die überlebensnotwendige Anpassung und Schuld miteinschließt: „Es war keine Menschlichkeit mehr in mir, ich hatte das kleine Mädchen getötet, ich grub direkt neben den Gaskammern... ich stand im Dienst des Todes.“

Die Autorin dachte immer, es sei ihre Schuld, dass der Vater nicht zurückkehrte

Während sie in der Erinnerung mit dem Vater noch einmal die Orte des Verbrechens abgeht, schaut sie zurück ins Frankreich vor und nach dem Krieg: Auf das „liebe kleine Mädchen“, dessen behütete Kindheit endete, als das Schloss von der SS besetzt und die Familienmitglieder auseinanderrissen wurden. Und auf die zu früh erwachsen gewordene Rückkehrerin, die zeitlebens dachte, es sei ihre Schuld, dass der Vater nicht zurückgekehrt war.

Denn er war es, den die später auseinanderbrechende Familie gebraucht hätte, nicht sie, Marceline. Hätte er überlebt, „wären wir zwei gewesen, die wussten“. Dass sie Birkenau überlebte und schließlich in Bergen-Belsen landete, wo es „kein Gas mehr gab, nur die übliche Barbarei“, ist glücklichen Umständen zu verdanken, ihrem Überlebenswillen und Mut. Und doch fragt sie sich: „Warum war ich in die Welt zurückgekehrt, unfähig zu leben?“

Wenn die schmale, rothaarige Frau, die mit ihrer kleinen Gestalt kokettiert, über diese Zeit spricht, wird sie langsamer, so, als ob sie sich erst mühsam in die Vergangenheit zurückversetzen müsste. Sie habe immer gewusst, dass ihr Vater nicht zurückkehren würde, sagt sie, auch als ihre Familie noch darauf hoffte. Das Wort „Deportierte“ mag sie nicht, sie bevorzugt „Überlebende“. Den Namen ihrer Ehemänner habe sie angenommen wegen des schwelenden Antisemitismus im Nachkriegsfrankreich: „Rozenberg war nicht opportun damals“.

Loridan-Ivens' Buch ragt heraus aus der Holocaust-Erinnerungsliteratur

Was sie mit ihrem unter Mitarbeit von Judith Perringnon verfassten schmalen Buch hinterlässt, ist eine literarische Rarität und ragt heraus aus der Holocaust-Erinnerungsliteratur des letzten Jahrzehnts. So wenig ambitioniert dieser Brief erscheint, so eindringlich vergegenwärtigt er das Geschehen. Es ist, als lege sich über die schmerzhaft genau beschriebene Anschauung der Zeitzeugin eine Firnis der Selbstverständigung. Im Du des Vaters, im Spiegel des toten Anderen findet die Autorin Ruhe: „Dir zu schreiben hat mir gutgetan.“

Den letzten Ausschlag für das Buch gab 9/11. Seit dem Tag des Anschlags auf das World Trade Center habe sie gespürt, „wie viel mir daran lag, Jüdin zu sein“, schreibt die Autorin. So hat sie, als eine von 76 500 französischen Juden, die nach Auschwitz-Birkenau fuhren und von denen heute nur noch 160 am Leben sind, den „Auftrag“ am Ende doch angenommen, wohl wissend, wie schwer es ist, etwas zu übermitteln, „was wir uns selbst kaum erklären können“. Marceline Loridan-Ivens jedenfalls ist es auf unvergessliche Weise gelungen.

Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Insel Verlag, Berlin 2015. 109 Seiten, 15 €.

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