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Kultur: Eine Gesellschaft in Angst ist gefährlich

Beklemmender Nachhall: Michael Ronens rasante Inszenierung „Ich rufe meine Brüder“ am Ballhaus Naunynstraße.

Es ist was passiert. Ein total krankes Ding. Ein Mann. Ein Auto. Zwei Explosionen. Mitten in der City. Das Stück „Ich rufe meine Brüder“ des Stockholmer Autors Jonas Hassan Khemiri – Sohn einer Schwedin und eines Tunesiers – beginnt mit einem Knall. Ein Terroranschlag erschüttert die Stadt. Den jungen Protagonisten Amor erreichen die Druckwellen beim besoffenen Tanzen in der Disco. Was er mit den Bomben zu tun hat? Alles und nichts. „Ich rufe meine Brüder an und sage: Nein, niemand wurde gefasst. Niemand wird verdächtigt. Noch nicht“. Nur, dass Amor sich bald selbst suspekt erscheint.

Jerry Hoffmann spielt diesen Jungen mit Hintergrund in Michael Ronens Inszenierung so projektionsoffen, dass es spannend bleibt. Was treibt ihn um, was bildet er sich ein? Der Clou von Khemirirs Stück: Äußerlich ereignet sich nichts Spektakuläres. Erzähler Amor ist genervt von seinem besten Freund Shavi, der als Familienpapa bloß noch die „Kleine“ im Kopf hat. Dabei war Shavi früher Helium. Hat alles leichter gemacht. Das ist so eine Marotte von Amor – jedem Menschen in seiner Umgebung ein Element aus dem Periodensystem zuzuordnen. Amor telefoniert mit seiner Cousine, die einen buddhistischen Hau hat.

Er trifft seine Sandkastenliebe, die sich von ihm mehr gestalkt als begehrt fühlt. Alles ganz alltäglich. Aber unter der Oberfläche schwelt es bedrohlich. Wird der Junge überwacht? Nimmt das Racial Profiling zu? Schlägt der Rassismus einer Gesellschaft durch, die auch rechte Parteien ins Parlament wählt? Es gilt die Losung: Dass du paranoid bist, bedeutet nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.

Regisseur Michael Ronen hat „Ich rufe meine Brüder“ im April in St. Pölten am Landestheater Niederösterreich zur Premiere gebracht. Dort fiel die Inszenierung zeitlich zusammen mit den Terroranschlägen von Boston – was ihr einen ungeahnt brisanten Resonanzraum verschaffte. Aber auch jetzt, wo sie ans koproduzierende Ballhaus Naunynstraße wandert, hat die Produktion an Aktualität nichts eingebüßt. Dafür ist das Thema zu allgemeingültig. Zwar bezieht sich Autor Khemiri auf einen realen Anschlag, der sich im Jahr 2010 in Stockholm ereignet hat. Überhöht ihn jedoch zum Menetekel. Es geht um eine Gesellschaft in Angst. Um den sich verfinsternden Blick auf den vermeintlich Fremden.

Damit kennt Michael Ronen sich aus. Er ist in Tel Aviv aufgewachsen zu einer Zeit, als dort wöchentlich die Busse explodierten. Seine kraftvoll vibrierende Inszenierung – an der im Rahmen einer Nachwuchsförderreihe auch das Gorki Theater beteiligt ist – vermeidet aber jede eindeutige Verortung. Stattdessen verwandelt sich die von Leinwänden umstellte Bühne (Silvia Rieger) in eine belebte Comic-Szenerie. Furiose Graphic-Novel-Bilder hat der Künstler Olivier Durand geschaffen, die den Look des Films „Sin City“ zitieren. Was in mehrfacher Hinsicht bezugreich aufgeht. Jede Metropole kann vom Ausnahmezustand erfasst werden, in jeder Metropole kann ein Pulverfass explodieren, und nichts ist mehr, wie es vorher war. Und dann greifen die Schwarz-Weiß-Raster.

„Ich rufe meine Brüder“ ist toll gespielt (neben Jerry Hoffmann von Nora Abel-Maksoud, Marion Reiser und Jan Walter), rasant und mit absurdem Witz in Szene gesetzt. Und hallt beklemmend nach. Patrick Wildermann

Wieder 30.11., 1.– 4.12., 20 Uhr

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