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Kultur: Eine kleine Geschichte des allgemeines Unsinns vom Spätdandy Vizconde de Lascano Tegui

Die Familie in "Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten" ist nichts anderes als die ganze Menschheit. Der gemeinsame Faden, an dem die einzelnen Bildnisse aufgehängt sind, besteht in einem seltsamen Auftrag: Versicherungsinspektor Michael Bingham soll die Stammbäume der bei einem Zugunglück umgekommenen Personen ermitteln, in deren Herkunft einen obskuren Koeffizienten finden, welcher der Versicherung neue Perspektiven für die Berechnung der Lebenserwartung eröffnet.

Die Familie in "Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten" ist nichts anderes als die ganze Menschheit. Der gemeinsame Faden, an dem die einzelnen Bildnisse aufgehängt sind, besteht in einem seltsamen Auftrag: Versicherungsinspektor Michael Bingham soll die Stammbäume der bei einem Zugunglück umgekommenen Personen ermitteln, in deren Herkunft einen obskuren Koeffizienten finden, welcher der Versicherung neue Perspektiven für die Berechnung der Lebenserwartung eröffnet. Michael Bingham wird mit dieser Aufgabe betraut, weil auch er in diesem Zug saß. Er ist also dem Tod entkommen, um die nächsten 20 Jahre in fleißiger Einsamkeit nach der Genealogie seiner weniger glücklichen Mitreisenden zu forschen und endlich zu erfahren, dass die Versicherungsgesellschaft seit langem pleite gemacht hat. In einer Bewusstseinstrübung läßt er einige Blätter seines Berichtes fallen. Ein fiktiver Autor sammelt sie auf und funktioniert sie zu einem Roman um, den er zuerst "Kutscher! Auf ins Nichts!", dann "Genealogien des adamitischen Lehms" nennen will, schließlich aber "Familienalbum" betitelt.

Die angebotenen drei Titel spiegeln die Grundidee des Buches. Die sechs Familiengeschichten, beginnend im frühen bis späten Mittelalter, enden mit der Eisenbahnkatastrophe (im Nichts) um 1900. Weder klären sie die Ursachen des Unglücks, noch bieten sie genaue Herkunftslinien. Jeder Stammbaum besteht aus einzelnen Geschichten, die nur durch dünne, oft unsichtbare Fäden aneinander anknüpfen. Ein Strandguträuber und ein königlicher Falkner, ein Bettler und ein Page, ein Doppelgänger des russischen Zaren und ein mexikanischer Professor und noch viele weitere Vertreter verschiedener Völker, Stände und Charaktertypen treten auf und gehen in diese diskontinuierliche Comédie humaine ein, um am Ende sechs Engländer in den falschen Zug steigen zu lassen: Aller Ursprung ist absurd. Verpackt in treffsichere Witze und absurde Situationskomik, kommt diese kleine Geschichte des allgemeines Unsinns recht elegant daher.

Emilio Lascano Tegui stellte vor seinen Namen das Adelsprädikat Vizconde de, um - wie es eine Anekdote will - einer adelssüchtigen Dame zu gefallen, benutzte es dann aber weiter als seinen Schriftstellernamen. Geboren 1887 in der argentinischen Provinz, gestorben 1966 in Buenos Aires, argentinischer Landsmann und älterer Zeitgenosse von Borges, verbrachte Tegui fast ein Drittel seines Lebens (1914-1936) in Paris. Die erste Reise nach Europa unternahm er jedoch schon 1908 (Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien). Das heißt: Er lernte das Vorkriegseuropa kennen, dessen Atmosphäre, die Mischung aus verspätetem Ästhetizismus des fin de siècle und euphorischer Ahnung heilbringenden Fortschritts.

Adel ist Zufall

Er ist ein Musterbeispiel für einen völlig vergessenen Literaten, der erst wieder ausgegraben werden musste. Er hat viel geschrieben, etliches ist verschollen, einiges taucht allmählich auf. Erst 1994 erschien eins seiner Bücher in Frankreich als Neuentdeckung, bereits 1995 kam eine deutsche Übersetzung heraus. "Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten" ist der zweite Fund, der nun auf deutsch vorliegt. Inzwischen stellte Dietrich Lückoff akribische Nachforschungen an, deren Ergebnis er im Nachwort zu diesem Buch präsentiert (die spannenden Schritte dieser Arbeit beschreibt er im "Schreibheft 49").

Lascano Teguis feine Paradoxe erinnern an Oscar Wilde, dessen Name in dem Buch mehrmals erwähnt ist, ebenso wie das Wort Dandy, das, bei dem enormen Wortschatz des Autors (und auch des Übersetzers Christian Hansen), sein Lieblingswort zu sein scheint. Natürlich ist dieses späte Dandytum durch die erlebte Katastrophe des Ersten Weltkrieges und die heranrückende des Zweiten ("Familienalbum" ist 1936 herausgekommen) in dunkle Töne getaucht. Als vielschreibender Journalist streut Lascano Tegui auch in seinen Roman aktuelle Anspielungen ein, was ihn als gesellschaftliche Satire zu lesen erlaubt. Aber den Hauptgedanken formuliert der Autor im letzten Fragment: "Die Register lügen, ohne es zu wollen, wenn sie die Herkunft der Kinder bei den Vätern suchen, weil sie die Poesie der Mütter verkennen, die ihre Ehemänner betrügen. So wenig es Reinrassigkeit gibt, sowenig gibt es Adel, der seinen Namen verdient. Er ist ein Spielball des Zufalls. Nur eine weitere ironische Form der Fatalität." Es besteht kein Zweifel, daß der Autor, der sich selbst mit dem adeligen Pseudonym eindeckte, lange über diesen Problemkreis nachgedacht hat und seinen Schluss ernst meint, ein Schluß, der nebenbei auf die Sinnlosigkeit des ganzen rationalen Diskurses zielt. Zwar äußerte (ein Paar Jahrhunderte früher) ein anderer düsterer Satiriker denselben Gedanken in frappierend ähnlicher Form, aber ohne das gleich mit einem Roman zu belegen: "Was aber Grafen, Marquis, Herzöge und dergleichen betrifft, sah ich mich in der Lage, die besonderen Gesichtszüge bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen. Ich konnte deutlich entdecken, woher die eine Familie ein langes Kinn erhalten kann. Auch konnte ich mich über all das gar nicht wundern, als ich eine derartige Unterbrechung der Abstammungslinien durch Pagen, Lakaien, Kammerdiener, Kutscher und Taschendiebe sah", - so Jonathan Swift in "Gullivers Reisen".

Doch nicht dieses, in solcher Auslegung heute kaum noch brisante Problem macht "Familienalbum" zu einer Bereicherung. Es ist eine Sammlung von witzigen, pointiert aufgebauten Szenen aus dem Alltagsleben, von Geschichten über Sonderlinge und historischen Anekdoten. Oder pseudohistorischen, da der schwarze Humor des Autors nicht nur die Möglichkeit von Rassen- und Herkunftsreinheit in Frage stellt, sondern geschichtliche Wahrheit überhaupt. Der Reigen, den die Menschheit hier bis zum leichten Schwindel tanzt, ist von einem klugen, ironischen, etwas eitlen und zutiefst pessimistischen Künstler skizziert. Die klar strukturierten und üppig ausgeschmückten Geschichten sind eine angenehme Lektüre voller Überraschungen, angesichts derer man mal eine Gänsehaut bekommt, mal glücklich lächelt.Vizconde de Lascano Tegui: Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten. Aus dem argentinischen Spanisch von Christian Hansen. Mit einem Nachwort von Dietrich Lückoff. Zsolnay Verlag, Wien 2000. 184 S., 34 DM.

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