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Kultur: Eine Mordsaffäre

Immer, wenn Martin Walser groß herauskommen wollte, war Marcel Reich-Ranicki schon da. Das ging über Jahrzehnte so, und da muss sich in Walser langsam etwas angesammelt haben, das einmal nach Erlösung drängte.

Immer, wenn Martin Walser groß herauskommen wollte, war Marcel Reich-Ranicki schon da. Das ging über Jahrzehnte so, und da muss sich in Walser langsam etwas angesammelt haben, das einmal nach Erlösung drängte. Der Walser-Roman, den der Suhrkamp-Verlag für Ende August ankündigt, scheint nun zum Ventil zu werden. "Tod eines Kritikers" heißt er. Was da genau drinsteht, wurde wie ein Staatsgeheimnis gehandelt. Man konnte nur ahnen und munkeln, und Walser inszenierte dieses Ahnen und Munkeln in seiner zwischen Staatsmann und Stammtisch schillernden Inszenierungskunst gleich mit. Als er neulich bei Gerhard Schröder im Kanzleramt zu Gast war, kam ihm das für den Staatsmann-Anteil dabei sehr zupass.

Welche Rolle in dieser Aufführung Frank Schirrmacher zugedacht ist, dem für Kultur zuständigen Herausgeber der FAZ, werden vielleicht die nächsten Tage deutlicher zeigen. In der FAZ von gestern begründet Schirrmacher in einem Offenen Brief an Walser, warum dessen neuer Roman nicht, wie sonst üblich, in der FAZ vorabgedruckt wird: Es handle sich "um ein Dokument des Hasses". Im Zentrum steht die Ermordung eines Starkritikers.

Dass dieser den Namen "André Ehrl-König" trägt, zeigt Walsers Willen zur Schmiere. Das Vorbild Reich-Ranicki ist überdeutlich, Walser versucht sogar ziemlich verzwungen, die Sprechweise des Fernsehkritikers zu imitieren. Am Schluss stellt sich für Schirrmacher folgendes heraus: "Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen." Angesichts der Tatsache, dass Reich-Ranicki mit seiner Frau im Warschauer Ghetto dem Naziterror und der Vernichtung nur knapp entkam, fragt der FAZ-Herausgeber den Autor: "Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?"

Dass Schirrmacher die Form des offenen Briefs wählt, könnte einem bewussten Kalkul entsprechen. Immerhin war er Walsers Laudator bei der Verleihung des Friedenspreises 1998 und ist ein Kenner seiner Gedankenwelt. Die assoziative Verbindung zu Jürgen Möllemanns Zündeln mit dem Antisemitismus drängte die FAZ jetzt aber Richtung Öffentlichkeit - um die Diskurshoheit zu beanspruchen.

Schirrmachers Lobrede galt damals durchaus auch Walsers patriotischen Gelüsten. Und Walser kritisierte anschließend in seiner Dankesrede die "Instrumentalisierung von Auschwitz"; er bezeichnete die ständige öffentliche Thematisierung des deutschen Massenmords an den Juden als "Moralkeule". Walsers Lust am "Tabubruch" ist also nicht neu. Er hat schon öfter überraschende Volten geschlagen: Eine Zeitlang agierte er als enger Sympathisant der DKP, bis heute tritt er gelegentlich als bekennendes Mitglied der Schriftsteller-Gewerkschaft auf, und plötzlich sprach er von der Sehnsucht nach der Nation und der deutschen Einheit, als das wirklich längst ad acta gelegt schien.

Walsers Unberechenbarkeit hat etwas mit seinem anarchischen Temperament zu tun, er ist ein Feuerkopf vom Bodensee, der gern Aufsehen erregt. Da neigt man auch dazu, die Dinge der Welt allzu ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Dass es da, von frühen Tagen in der Gruppe 47 angefangen, auch eine Konkurrenz zu einem Temperament wie Reich-Ranicki geben musste, ist klar. Seinen ersten Höhepunkt hatte dieses Autor-Kritiker-Duell Ende der siebziger Jahre, als Walser schon genauso unbändig und hemmungslos produzierte wie heute: Reich-Ranicki feierte zunächst Walsers "Fliehendes Pferd" als einzigartiges Meisterwerk, um bald darauf schon im ersten Satz der Besprechung von "Jenseits der Liebe" zu verkünden, was für ein entsetzlich missratenes Buch das sei. Und Walsers eifersüchtiges Interesse an jüdischen Themen in letzter Zeit mag damit zusammenhängen, dass Reich-Ranicki ihm beim groß angelegten autobiografischen Roman "Ein springender Brunnen", der die Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus beschreibt, eine auffällige Verharmlosung der Judenverfolgung vorwarf. Die Friedenspreisrede Walsers war auch eine Antwort darauf.

Walser, der immer unstet eine Heimat suchte und sie nie richtig finden konnte, hat sich in den letzten Jahren in ein trotzig-gekränktes Deutschtum gerettet. Er ist Sprachwirbler genug, um das Unterschwellige immer nur durchschimmern zu lassen, Atmosphärisches anzusprechen, ohne allzu eindeutig zu sein, Ressentiments zu bedienen und doch auch immer etwas Richtiges zu treffen. Walser wirft Schirrmacher nun vor, aus einem noch nicht freigegebenen, "unredigierten Manuskript" zitiert zu haben. Und er habe nicht damit gerechnet, dass dieser Schlüsselroman über den Literaturbetrieb vor dem "Hintergrund des Holocaust" gelesen werden könne.

Vielleicht hat er diesmal den Bogen doch überspannt. Bestsellerverdächtig ist das Sujet allemal, die Anbahnung des dafür notwendigen Skandals ist gelungen - aber dieses Duell wird Reich-Ranicki wieder gewinnen, auch wenn er gegenüber dem Tagesspiegel nur sagt: "Es gibt in Deutschland 80 Millionen Menschen, die etwas dazu sagen können. Ich bin der Einzige, der dazu nichts sagen kann. Das werden Sie verstehen."

Auch dem Suhrkamp-Verlag, der ein natürliches Interesse an einem Bestseller hat, dürften einige aufregende Tage bevorstehen. Walser hat öffentlich den designierten Nachfolger von Siegfried Unseld, Günther Berg, als seinen Verleger akzeptiert. Berg ist darauf angewiesen, Walser, dessen Lebenswerk bei Suhrkamp vorliegt, zu halten. Aus dem Verlag ist zu hören, dass es wilde Diskussionen um den neuen Walser-Roman gegeben hat. Nicht zuletzt deshalb, weil eine kaum verfremdete Siegfried Unseld-Figur, im Gegensatz zur Reich-Ranicki-Figur, im Buch tatsächlich stirbt. Der bald 78-jährige Unseld hat es nach heftigen Auseinandersetzungen zugelassen, dass der Roman in seinem Verlag erscheint. Nicht einmal Schirrmacher wird das verhindern. So droht in Vergessenheit zu geraten, was schon seit etlichen Jahren feststeht: Es gibt weitaus Wichtigeres für die Literatur als den jeweils neuesten Roman von Martin Walser.

Helmut Böttiger

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